Was weiß der Richter von der Liebe
wegsteckt.«
DIE ANGST, DIE ICH IMMER HABE
Was tun mit Herrn von Kowalewski? Fragt die Richterin sich. Und ihn. Was ihm denn zusagen würde? Welche Art von Hilfe? Dringt sie in den Angeklagten. Aber Herr von Kowalewski ist ja selber ratlos. Er sagt: »Das weiß nur der, der alles weiß.« Dann weiß die Richterin es auch nicht.
Der, der alles weiß, muss wohl auch zugesehen haben am 21. November 2003. Als das Gerechtigkeitsempfinden in den Raum gedonnert kam mit Blaulicht und Tatütata. Als Herr von Kowalewski urplötzlich vom Stuhl aufsprang, ihm gegenüber seine verblüfften Vorgesetzten von »Jahresringe e. V.«, als Herr von Kowalewski fickerig die Polizei anzurufen versuchte, was ihm nicht gelang, und als er unvermittelt zu brüllen begann. »Wüste Beschimpfungen vulgärer Art« erinnert Frau Steen, vieles aber blieb schlicht unverstanden, weil Herr von Kowalewski auch auf Türkisch schrie. Herr Zobel soll noch einen Ordnungsruf versucht haben, überliefert sind die Worte: »Wenn hier jemand schreit, sind wir das« – alles umsonst. Bald flog ein Stuhl durch den Raum, den Herr Zobel dankbar aufgriff, um sich in der Folge gegen Tritte und Schläge abzuschirmen. Glimpflich knallte er gegen die Wand und tat sich den Arm weh, ehe herbeigerufene Kollegen Herrn von Kowalewski zu beruhigen versuchten und ihn aus diesem Raum führten, in dem ihm soeben gekündigt worden war, doch bevor er den endgültig hinter sich ließ, segelte noch ein weiteres Utensil durch die Lüfte. Eine Blumenschale»mit eigroßen Steinen« verfehlte Frau Steen, die ausweichen konnte, und donnerte an einen Schrank.
André Emin von Kowalewski, 31 Jahre alt, hat alles ausprobiert. Wegen dieser Wutausbrüche. Seit Jahren läuft er von Arzt zu Arzt, betreutes Wohnen hat er auch schon durch. Aber das ging nicht, nicht mit ihm. Von einer Versuchsreihe mit einem neuen Medikament hat er auch gehört, hier in Berlin; seit Jahren will er da mitmachen, aber er wird nicht angenommen. Ob er denn sein Narkoleptikum gut vertrage? Will die Richterin wissen. Manchmal ja, sagt Herr von Kowalewski, und manchmal wirkt es nicht. Die meiste Zeit gehe es ihm eigentlich ganz gut. Vom 21. November 2003 ist ihm vor allem eines in Erinnerung: wie ungerecht er sich behandelt fühlte. Erst hieß es, er könne Stellung beziehen. Doch er hätte sich auf den Kopf stellen können – seine Kündigung stand ja längst fest. Das merkte der Angeklagte. Und deswegen wollte er die Polizei rufen. Ja, aber – was hätte die denn tun sollen? In Ihren Vorstellungen? »Die waren halt nicht realistisch«, sagt Herr von Kowalewski. »Natürlich war das Schwachsinn.« Aufmerksame braune Augen hat er, etwas ratlos schaut er durch den Gerichtssaal wie ein Junge, dem die Welt zu groß geworden ist.
Der Gutachter hat ein paar Erklärungen mitgebracht. Der Gutachter hat sich mit Herrn von Kowalewski befasst und hat also vorgefunden: eine »emotional instabile Persönlichkeitsstörung vom impulsiven Typus«, das ist die F 60.30 in der aktuell gültigen Seelenkartographie der WHO, und unter dieser Nummer hat man »ständig wechselnde, oft unvorhersehbare Stimmungslagen,heftige Zornesausbrüche mit teilweise gewalttätigem Verhalten und mangelnde Impulskontrolle«. Der Gutachter hat den Angeklagten zweimal getroffen. Beim ersten Mal unterhielten sie sich zweieinhalb Stunden, das ging gut. Die gemeinsam gemalte Lebensgeschichte enthält: eine türkische Mutter, der »die Hand locker sitzt«. Einen deutschen Vater, der brüllt, der Schubladen auskippt, der Tobsuchtsanfälle hat, der seinen Sohn für zu doof erklärt, ihn schlägt. Die Lebensgeschichte enthält: Backenbleiben in der Schule wegen eines Beckenbruchs beim Fußball. Eine abgebrochene Lehre im Einzelhandel. Eine abgebrochene Lehre in der Sozialversicherung. Klinikaufenthalte. Jobs bei der Post und beim Mediamarkt. Das Fachabitur. Den abgeschlossenen Bürokaufmann. Arbeit mit Behinderten. Und die Seniorenbetreuung bei den »Jahresringen« – von Seniorenseite keine Klagen. Seiner Vorgesetzten aber wurde der Angeklagte unheimlich. Wegen aggressiver Ausbrüche. Und das war dann das Ende. Zur Zeit ist er in seiner Kirchengemeinde für die Bewirtung nach dem Gottesdienst zuständig. Ob er wieder einen Beruf ausüben will? Fragt die Richterin. Herr von Kowalewski sagt: »Das Problem ist die Angst, die ich immer habe. Die Angst beherrscht mich total.«
Die Angst, die handfest wird, sie ist auch aktenkundig geworden. Eine Vorstrafe hat
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