Was will man mehr (German Edition)
Ersatzbus», sage ich.
Mulligan lacht. «Ich wette fünf Pfund dagegen.»
«Hätte ich mir denken können, dass Sie auch noch wetten.»
Mulligan nickt zufrieden. «Ja. Ich trinke. Ich rauche. Ich wette. Und wenn es möglich wäre, dann würde ich auch mit Betty Tailor schlafen.»
Es dämmert, als der Reverend mich in einem Londoner Vorort absetzt. Am Ende eines verwilderten Gartens ist ein kleines Cottage zu sehen, das sich unter einer mächtigen Ulme zu ducken scheint. Alles ist ruhig. Ich kann mein Herz schlagen hören. Das liegt aber nicht an der Stille, sondern an der bevorstehenden Begegnung mit Iris, denke ich, und gelange an die hölzerne Eingangstür. Ich klopfe. Nichts geschieht. Ich klopfe erneut und stelle mir vor, dass gleich diese Tür aufgeht und Iris’ Engelsgesicht erscheinen wird. Wieder keine Reaktion, wieder klopfe ich. Nun sind leise Geräusche zu hören. Ich warte.
Langsam wird die Tür geöffnet. Iris steht vor mir. Sie sieht nicht nur nicht engelhaft aus, sondern völlig verwahrlost. Ihre Haare sind wirr und ungewaschen, der Morgenmantel ist fleckig, sie hat tiefe Ringe unter den Augen, und ihr Gesichtsausdruck erinnert an verwirrte alte Frauen, die mit Dutzenden von Katzen zusammenleben.
«Hi», sage ich ebenso unsicher wie erschrocken.
«Wenn sie jetzt wieder wach wird, dann bring ich dich um», flüstert Iris. Es klingt wie das gefährliche Versprechen einer geisteskranken Serienmörderin.
Stille. Ich frage mich, was mit ihr los ist.
Dann hört man plötzlich ein kurzes Aufstöhnen, gefolgt von dem langsam anschwellenden, sirenenartigen Geräusch eines schreienden Säuglings.
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Das Londoner Büro hat Funkkontakt
«Soll ich uns vielleicht einen Kaffee machen?», frage ich durch die geschlossene Badezimmertür. Keine Reaktion von Iris.
«Und gibt es hier vielleicht irgendwo einen Bäcker?», setze ich nach. «Ich könnte uns ein paar …» Drinnen wird demonstrativ ein Föhn eingeschaltet. Ich soll also meine Frühstücksplanung offenbar für mich behalten.
«Deine Mami ist immer noch sauer auf mich», sage ich zu Mary-Ann. Die Kleine hört mir ebenfalls nicht zu, sondern wartet darauf, dass ich ihre gerade abgelaufene Spieluhr wieder aufziehe. Routiniert betätige ich den Drehknopf. Das rhythmische Knacken lässt Mary-Ann aufgeregt an ihrem Schnuller nuckeln. Dann klimpert der kleine Plastikkasten über ihrem Bettchen ein weiteres Mal Frère Jacques . Sie lächelt zufrieden. Wir haben das Lied seit Sonnenaufgang nach meiner Schätzung etwa eine Million Mal gehört. Mary-Ann ist offenbar ein großer Fan der Melodie. Ich hingegen befürchte, dass Frère Jacques mein Ticket in eine düstere viktorianische Nervenheilanstalt sein könnte, wo ich als «Crazy Brother John» den Rest meiner Tage in einer Einzelzelle verbringen muss.
«Hast du mich eben was gefragt?», erkundigt sich Iris und reißt mich damit aus meinen apokalyptischen Tagträumen. Ein paar Stunden Schlaf und eine Dusche haben ihr sichtlich gutgetan. Sie wirkt erholt und längst nicht mehr so angespannt wie in den frühen Morgenstunden. Mit wenigen Handgriffen bindet sie ihre Haare zu einem Zopf.
«Rot?», frage ich verblüfft. «Blond stand dir aber auch nicht schlecht.»
«War es das, was du wissen wolltest?»
«Nein. Ich wollte uns einen Kaffee machen», erwidere ich.
«Ich mach schon», sagt sie und geht die wenigen Schritte zur Küchenzeile.
«Du bist nicht mehr sauer auf mich», stelle ich erfreut fest.
«Wegen Mary-Ann? Nein. Du hast mir ein paar Stunden Freizeit ermöglicht. Ich müsste dir eigentlich sogar sehr dankbar sein.»
Dann hat sich meine Nachtschicht zumindest in dieser Hinsicht gelohnt, denke ich. Im gleichen Moment fällt mir Iris’ merkwürdige Wortwahl auf.
«Wieso müsste?», frage ich.
«Na ja. Dass ich mir überhaupt die Nächte mit Mary-Ann um die Ohren schlagen muss, habe ich schließlich dir zu verdanken. Timothy könnte mir helfen, aber er ist in Deutschland und versucht im Verlag zu retten, was noch zu retten ist.»
«Und das heißt?», frage ich verdutzt. Mir ist völlig schleierhaft, worauf Iris hinauswill.
Sie ist nun ebenfalls verwundert. «Ich glaube, du bist an der ganzen Misere nicht völlig unschuldig, oder?»
Ich bin baff. «Doch, bin ich. Ich hab den Laden verlassen, lange bevor das Insolvenzverfahren eröffnet wurde», wehre ich mich.
«Ja, und zwar Hals über Kopf. Gewisse Leute glauben, du hast sehr genau gewusst, was auf den Verlag zukam,
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