Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Konkubine

Die Konkubine

Titel: Die Konkubine Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Gabriel
Vom Netzwerk:
Prolog
    SIE HIELT DIE TEESCHALE gegen das Licht. Es war Februar 2007. In China hatte das Jahr des Feuerschweins gerade begonnen. Die Sonnenstrahlen strömten für diese Jahreszeit außergewöhnlich kräftig durch die Fensterscheibe mit den braunen Sprossen. Dieser Winter war, zumindest bisher, einer der wärmsten seit Beginn der Messungen, sagten die Meteorologen. Sie schloss für einen Moment die Augen. Jede Pore ihres Gesichtes, ihres Körpers saugte das Licht in sich hinein. Die kleine Schale in ihrer Hand wurde warm, fühlte sich lebendig an. In drei Tagen würde ihre große Reise beginnen.
    Sie öffnete die Augen, musste wegen der Helligkeit einen Moment blinzeln und drehte sich dann etwas zur Seite, um die blauen Muster besser sehen zu können. Die Sonne schien durch das hauchzarte Porzellan und verlieh den Wolken, den Bergen, den Bäumen ein atmendes Wesen, eine pulsierende Aura. Es war wie ein Gruß aus der Vergangenheit, die Verbindung zu einer längst versunkenen Welt. Der Antiquitätenhändler, bei dem sie die Schale hatte schätzen lassen, behauptete, sie sei vor mehr als einem halben Jahrtausend in einer chinesischen Porzellanmanufaktur entstanden. Sie stellte sich vor, wie der Künstler dort gesessen hatte, wie er geduldig den haarfeinen Pinsel führte, wie kobaltblaue Linien, Ornamente und Schattierungen den weißen Untergrund nach und nach bedeckt hatten. Wie der Handwerker sich aufgerichtet hatte und seine Arbeit begutachtete, die Schale hochhob, gegen das Licht hielt und sie langsam drehte. Ob er wohl mit sich zufrieden gewesen war? Denn die Vollendung stand noch aus. Erst die Lasur, das Brennen machte dieses besondere Fluoreszieren möglich.
    Die Sonne verschwand hinter einer Tanne, das Leuchten erlosch – und mit ihm war auch der kurze Tagtraum verflogen.
    Sie senkte die Schale. «Ich werde sie mitnehmen», murmelte sie. Dann wandte sie sich wieder ihrem Koffer zu.
    «Meinst du nicht, sie ist zu wertvoll, um sie mitzuschleppen? Wer weiß, vielleicht ist sie kaputt, wenn du ankommst.»
    Sie betrachtete ihn nachdenklich. Wie sollte sie ihm erklären, warum sie diesen Gegenstand mitnehmen würde, mitnehmen musste? «Diese Schale ist wie ein Band, weißt du, eines, das mich zu meinem Großvater führt.» Sie wusste nicht mehr weiter.
    «Du kanntest deinen Großvater doch gar nicht.»
    «Genau deswegen. Er hat diese Schale aus China mitgebracht…» Sie brach ab.
    Wie oft hatte sie dieses zarte Kunstwerk aus Porzellan in ihrer Kindheit heimlich aus der Vitrine im Wohnzimmer genommen, es hin- und hergedreht, von einem Land geträumt, das sie nur aus Bildern kannte. Es musste ein Zauberland sein. Wie sonst hätten die Menschen dort schon in alter Zeit so herrliche Märchen auf einer Teeschale erzählen können? Es gab viele chinesische Motive, die Jahrhunderte, wenn nicht gar Jahrtausende überdauert hatten. Für sie waren die Drachen lebendig geworden; und die Lilien, Chrysanthemen und Päonien blühten und dufteten. Es waren Ornamente, die Träume gebaren.
    «Sie ist zu wertvoll. Du solltest sie wirklich wieder in den Schrank stellen.» Er ließ nicht locker. Das war seine Art. Sternzeichen Steinbock, schoss es ihr durch den Kopf. Doch, sie würde die Schale mitnehmen. Sie war ihr Pendel, ihre Wünschelrute, sie würde ihr den Weg weisen auf den Spuren jenes jungen Soldaten, der im Herbst 1902 an Bord des Marinetransportdampfers Crefeld zum ersten Mal die chinesische Küste gesehen hatte. Zweiundzwanzig war er damals gewesen, mit einem Milchgesicht und den Augen eines Kindes. Voller Hoffnungen, vielleicht voller Ängste, sicherlich mit einer gehörigen Portion Abenteuerlust und dem noch ungebrochenen Glauben an die Möglichkeit von Wundern.
    Ob er wohl geahnt hatte, dass in den nächsten fünfzehn Jahren vier Kaiserreiche untergehen würden, das chinesische, das russische, das deutsche und das österreichische? Dass er in seinem Leben die beiden blutigsten Kriege der Menschheitsgeschichte erleben, dass die kleine deutsche Kolonie am Gelben Meer verglichen mit diesen Umwälzungen nur eine unbedeutende Episode bleiben würde? Wahrscheinlich hätte er es nicht für möglich gehalten. Als Konrad Gabriel nach China ging, war die Welt für ihn noch in Ordnung. Er war Deutscher, und er war stolz darauf. Konrad hatte keinen Grund, an der Berechtigung dieses Stolzes zu zweifeln.
    Er hatte seinen Militärdienst zunächst als Freiwilliger in der Ostasiatischen fahrenden Batterie in Tientsin angetreten. Einige

Weitere Kostenlose Bücher