Was will man mehr (German Edition)
Mulligan fort. «Betty lässt kein gutes Haar an ihm, weil er sich für die Provinz und gegen London entschieden hat. Überhaupt ist sie krankhaft ehrgeizig. Wenn ich mir vorstelle, dass sie heute mir die Hölle heißmachen würde, dann bin ich sehr froh, dass sie sich damals nicht für mich entschieden hat.»
«Das ist Ihnen erst nach drei Jahren klargeworden?», frage ich ungläubig.
«Ja», erwidert Mulligan leichthin. «Ich verliebte mich plötzlich in die Leiterin der Stadtbibliothek, und in diesem Moment fühlte ich, dass Betty Tailor aus meinem Herzen verschwunden war.»
«Sind Sie auch auf dem Weg zur Fähre?», hört man in diesem Moment eine alte und schwache Stimme aus dem Dunkel fragen.
Mulligan und ich halten inne. Am Straßenrand ist die Silhouette eines Mannes zu erkennen. Wie wir wenig später erfahren, handelt es sich um den dreiundneunzigjährigen William McCullum, einen starrköpfigen Iren, der sein Gepäck nicht mehr aus der Hand gibt, seit man es ihm einmal gestohlen hat.
«Das war am Abend des 14. März 1937», erklärt William. «Es regt mich immer noch fürchterlich auf, wenn ich nur dran denke.»
William hat deshalb seinen Koffer mitgenommen. Jetzt ist der alte Mann leider mit seinen Kräften am Ende. «Wenn Sie mir helfen würden, dann könnte ich es pünktlich bis zur Fähre schaffen. Sie müssen wissen, meine Urenkelin in Newham wird morgen volljährig.»
Mulligan dreht sich um. Weit hat McCullum es mit seinem Koffer nicht geschafft. Unser havarierter Reisebus steht keine dreihundert Meter entfernt. Ich ahne, was der Reverend denkt. Es wäre die einfachste Lösung, Williams Koffer zurückzubringen und dann gemeinsam zur Fähre zu gehen, statt das Gepäck des alten Mannes mehrere Kilometer weit zu schleppen. Wahrscheinlich wird William sich auf diesen Vorschlag jedoch nicht einlassen, weil er durch den mehr als siebzig Jahre zurückliegenden Kofferraub traumatisiert ist. Ich greife nach dem Gepäck vom alten McCullum und erleichtere damit Mulligan die Entscheidung.
Da der alte Mann auch ohne seinen schweren Koffer nicht gut zu Fuß ist, hätten wir um Haaresbreite die Fähre verpasst. Dort sorgt ein freundliches Besatzungsmitglied immerhin dafür, dass William sich auf einer Pritsche im Mannschaftsraum ausruhen darf. Der alte Mann ist froh, so anständige Leute wie uns getroffen zu haben, und bedankt sich überschwänglich. Seinen Koffer nimmt William trotzdem sicherheitshalber lieber mit in den Mannschaftsraum.
Während ich zwei Sixpacks Guinness besorge, um Mulligans Kühltasche aufzufüllen, und zwei Tassen Kaffee, um die Müdigkeit zu vertreiben, sucht der Reverend uns einen Fensterplatz. Die Sessel und Tische sind aus Hartplastik und in verschiedenen Orangetönen gehalten. Das soll wahrscheinlich frisch und freundlich wirken, tut es aber nicht. Man fühlt sich, als würde man in den siebziger Jahren an einem verlassenen Busbahnhof herumlungern.
Draußen herrscht tiefschwarze Nacht. Gischt spritzt gegen die Fensterscheiben. Man spürt deutlich den starken Seegang. Zu hören ist vom Rollen der Wellen und vom Rauschen des Windes hier drinnen aber kaum etwas. Lediglich das dumpfe und monotone Klopfen der Maschinen im Bauch des Schiffes erinnert daran, dass sich die Fähre durch schweres Wetter kämpft.
«Dann legen Sie mal los!», bittet Mulligan und öffnet eine Dose Bier, nachdem er kurz an seinem Kaffee genippt hat.
Ich sehe ihn fragend an.
«Ihre Betty-Crowley-Geschichte», setzt er nach.
«Ach ja», erwidere ich und überlege, wo ich anfangen soll.
«Wie heißt sie denn überhaupt?», hilft Mulligan mir auf die Sprünge.
«Iris.»
«Ein hübscher Name.» Er zieht ein weiteres Bier aus der Kühltasche, öffnet es und stellt es neben meinen Kaffee.
«Ihre Schwester erwartet ein Kind von mir», falle ich mit der Tür ins Haus.
Mulligan schiebt langsam seine Kaffeetasse zur Seite. «Sie lieben eine Frau, von deren Schwester Sie ein Kind erwarten.»
«Genauso ist es», sage ich nickend.
«Und wieso? Haben Sie sich nicht entscheiden können?», rät Mulligan.
«Doch, ich hätte mich für Iris entschieden. Aber die ist die Frau eines anderen geworden. Wir hatten kurz vor ihrer Hochzeit was miteinander. Ich wollte sie überreden, nicht vor den Altar zu treten. Leider kam ich zu spät. Ihr Mann ist ihr nicht sonderlich treu, aber die beiden haben ein Kind. Deshalb will sie ihn nicht verlassen.»
«Haben Sie nach der Hochzeit nochmal mit ihr gesprochen?»
«Mehrmals»,
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