Was wir erben (German Edition)
jeder Wende wurde die Welt außerhalb des Beckens immer unbedeutender. Ich zähle beim Schwimmen die Bahnen und beim Zählen vergesse ich alles. Mit jedem rechten Armschlag sage ich mir die Zahl vor, bei der ich gerade bin. Das ist wie ein Gebet. Einundzwanzig. Einatmen. Einundzwanzig. Einatmen. Einundzwanzig. Einatmen. Wende. Zweiundzwanzig. Einatmen. Zweiundzwanzig. Einatmen. Irgendwann kommt der Punkt, an dem sich das Zählen verselbständigt und meine Fantasie in Gang kommt. Dann entsteht ein neues Draußen, eine andere Welt; wenn ich im Olympiabad schwimme, stelle ich mir vor, wie die Ränge voll besetzt sind, wie die Leute meinen Namen rufen, wie sie mich anfeuern, von ihren Sitzen aufspringen, weil sie wollen, dass ich als Erste anschlage. Beim Einatmen geht der halbe Kopf aus dem Wasser, das linke Ohr liegt in der Luft und ich höre sie hysterisch schreien. Und dann die Stimme in meinem Kopf, die euphorische Stimme des Kommentators: Sie wird es schaffen. Sie kann den Weltrekord knacken, den ewigen Rekord, damit hat wirklich niemand gerechnet, nicht in diesem Rennen. Damit wird sie sich unsterblich machen. Es ist nicht zu glauben, meine Damen und Herren, wir sind hier und heute Zeugen einer absoluten Sensation. Der Schwimmsport wird von diesem Tag an ein anderersein. Der Kommentator schreit meinen Namen. Immer wieder. Sie hat es geschafft, sie hat es geschafft. Niemand hatte sie auf der Rechnung. Wirklich niemand. Das ganze Training, all die Entbehrungen, jetzt zahlt es sich aus. Mit jedem Beinschlag, mit jedem Armzug tauche ich tiefer ab in diesen Film. Gold, Gold, Gold, schreit der euphorisierte Mann in meinem Kopf. Die Stimme füllt mich an mit Glaube, mit Stolz, mit Hoffnung. Die Stimme des Reporters wird leiser und verlangsamt sich. Neunundzwanzig. Einatmen. Neunundzwanzig. Einatmen. Wende. Dreißig. Einatmen. Dreißig. Einatmen. Noch elf Bahnen, dann habe ich es geschafft, dann sind die zwei Kilometer voll. Bis dahin gleite ich in einen neuen Film, ich sehe die Bilder von 72, die Bilder aus dem Fernsehen, aus den Büchern, und ich denke an seine Rekorde, ja, ich denke an die Rekorde von Mark Spitz, ich denke an seinen Bart, die dunklen Haare auf dem Kopf, unter den Achseln, ich denke an diese knappe Schwimmhose, Stars and Stripes, den Ansatz der Bauchmuskeln, der links und rechts als helle Linie in der Badehose verschwindet, ich denke an die Goldmedaillen, die er 72 geholt hat, ich höre die Stimme des Vaters, ich höre, wie der Vater mich, seine Tochter, tatsächlich Mark Spitz nennt. Immer wieder: Mark Spitz. Das hat er gesagt, wenn ich vom Schwimmtraining nach Hause gekommen bin: Mark Spitz. Er hat kurz gelacht und sich wieder zum Fernseher gedreht. Abends lag ich im Bett und habe mir immer wieder diesen Namen vorgesagt: Mark Spitz. Mark Spitz. Mark Spitz. Laut. Leise.Gebrummt. Gehaucht. Fröhlich. Traurig. Schnell. Langsam. Roboterhaft. Gesungen. Geleiert. In allen möglichen Variationen. Mein beruhigender Vers zum Einschlafen. Ich bin nicht auf die Idee gekommen, nachzufragen: Wer ist dieser Mark Spitz? Es gab keine Fragen, die ich dem Vater gestellt hätte. Ich stellte mir die Fragen selbst.
Auf Youtube findest Du ein paar von den Starts. Das Rennen vom 29. August gibt es nicht als Film. Ich habe die letzten Tage alles durchsucht. Ich hatte die idiotische Hoffnung, den Vater und Deine Mutter auf einem der Videos ausfindig zu machen. Die 100 Meter Kraul und die 200 Meter Schmetterling und die 100 Meter Freistil-Staffel kannst Du ganz anschauen. Du findest im Netz etwa zwanzig Varianten von Mark Spitz’ Bart-Geschichte. Die baut er in seine Vorträge ein, die er vor irgendwelchen Managern hält. Er berichtet, dass er sich den Bart eigentlich abrasieren wollte, auch die Trainer hätten ihm dazu geraten, aber dann habe er noch vor dem ersten Start in der Olympiahalle ein Interview gegeben. Ein Journalist habe ihn gefragt: Warum tragen Sie diesen Bart, Mr. Spitz? Stille. Er habe die freudigen Gesichter der Journalisten gesehen, aber auch die neugierigen Blicke der russischen Trainer, die sich zu der Interviewtraube dazugestellt hatten, weil sie scharf darauf gewesen waren, seinem Geheimnis schon vorab auf die Schliche zu kommen. Er habe diesen Typen nicht verraten wollen, dass er eigentlich beabsichtigt habe, das Ding abzurasieren, obwohl es ihm gefallen habe, alle hätten damals schließlich lange Haare und Bartgetragen, und dann dachte er, warum die Gelegenheit nicht nutzen und die Russen
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