Was wir erben (German Edition)
Schwimmbadwasser auf den Kacheln. Um ihn herum hatte sich ein rosafarbener See mit grünen Kotzschlieren gebildet. Holger beugte sich zum Gesicht desMannes, er hielt sein Ohr an dessen Mund. Er wollte spüren, ob er noch atmet. Er nahm schließlich das fahle Gesicht des Alten, presste dessen Wangen mit Daumen und Mittelfinger zusammen und drückte ihm seinen Mund auf die blauen Lippen. Dabei hielt er dem Mann mit der anderen Hand die Nase zu, damit die Luft, die er ihm in die Eingeweide pumpte, nicht aus den Nasenflügeln wieder entweichen konnte. Er blies mit voller Wucht in den Alten hinein. Ein Mal, zwei Mal. Drei Mal. Nichts passierte. Ich sah, dass Holger immer unruhiger wurde. Er versuchte es immer und immer wieder. Dann zuckte der Mann plötzlich, er röchelte. Ein flüchtiger Anflug von Hoffnung zog über Holgers Gesicht wie der Schatten einer Wolke. Holger setzte wieder an mit der Reanimation. Das Röcheln schien nur ein trügerisches Lebenszeichen gewesen zu sein, ein letztes Aufbäumen. Der Kopf des Mannes war längst knallrot angelaufen. Die Augen platzten hervor, gelber Sud quoll aus dem Mundwinkel. Er zuckte nicht mehr. Er lag regungslos da, sein Gesicht wechselte die Farbe. Von Rot nach Grün. Ende. Holger nahm seine Hände vom Körper des Mannes und sank nach hinten. Die Unterarme ruhten schlaff auf seinen Oberschenkeln. Keiner sagte ein Wort. Absolute Stille. Selbst die aufgeregten Rentnerinnen hielten die Klappe. Kein Kindergeschrei, nichts. Kurz darauf traf der Notarzt ein. Er versuchte es noch ein paarmal mit Stromstößen aus dem Defibrillator, aber die Sache war gelaufen.
Am Abend beim Essen stocherte Holger mit der Gabelin seinen Nudeln herum. Dann hob er den Kopf und schaute mich an. Er hatte wässrige Augen. Der ist mir unter den Fingern weggestorben, sagte er. So hilflos wie in diesem Moment hatte ich Holger noch nie zuvor erlebt. Du hast dein Bestes gegeben, wollte ich ihn trösten, selbst der Notarzt konnte nichts mehr machen. Holger schob den Teller mit den Nudeln und der Steinpilzsauce in meine Richtung. Er war blass. Ich fragte ihn, wie der Alte geschmeckt hat. Wie hat sich das angefühlt, einen Toten zu küssen? Mein Knie tut weh, antwortete Holger. Ich will ins Bett. Wir sollten bald wieder ins Olympiabad gehen, sagte ich, damit wir die Bilder loswerden.
Das ist drei Wochen her. Und jetzt sitze ich da mit dem Foto, das Du mitgebracht hast. Der Vater vor der Schwimmhalle. 72.
Schau Dir das Foto genau an. Dann kannst Du die Narbe auf seiner Stirn erkennen. Gewöhnlich hat er sie verdeckt mit den strähnigen, quer über die Glatze gescheitelten Haaren. Aber das
Mal
, wie er die Narbe nannte, ragte so weit ins Gesicht, dass es unmöglich war, es komplett verschwinden zu lassen, ohne dabei auszusehen wie ein Waldschrat. Auf dem Foto kommt mir die Narbe plötzlich viel größer vor. Ich habe die Narbe nie als absonderliches Merkmal des Vaters betrachtet. Die Narbe gehörte einfach zu ihm dazu.
Als ich dreizehn oder vierzehn war, musste die Mutter für ein paar Tage ins Krankenhaus. Das Haus, in dem wir wohnten, stand mitten in einem kleinen Dorf in der Eifel. Von der zweiten Etage führte eine Treppe auf den Dachboden. Die Treppe war in die Decke eingebaut und man musste sie mit einem eigens dafür angefertigten Stock, an dessen Ende ein Metallhaken befestigt war, herunterziehen. Auf dem Dachboden standen Kisten herum, Möbel, altes Zeug. Zum Teil waren das Sachen, die gar nicht den Eltern gehörten. Die Eltern waren nachlässig in solchen Dingen. Sie hatten nicht darauf bestanden, dass der Dachboden leer geräumt wird, bevor sie einzogen. Die Mutternutzte den Dachboden, um dort Einmachgläser zu lagern. Warum sie das nicht im Keller tat, wie alle anderen im Dorf, keine Ahnung. Der Vater betrat diesen Dachboden nie. Die Mutter wollte ein paar Gläser von oben holen, da stürzte das Türmonstrum ungebremst auf ihr Gesicht. Eine alte Feder, die die Tür halten sollte, war gerissen. Die Mutter rannte schreiend aus dem Haus, über den Hof zu den Nachbarn. Die Mutter blutete aus der Nase, das ganze Gesicht war in Sekundenschnelle angeschwollen und verfärbte sich später grün, blau und gelb. Die Mutter sah aus wie ein Zombie. Die Nachbarn riefen sofort den Krankenwagen. Die Mutter musste zur Beobachtung in der Klinik bleiben. Am Abend war ich mit dem Vater alleine. Das erste Mal in meinem Leben. Das war die Zeit, als der Vater nicht trank. Die Trockenphase. Wir schauten fern. Es lief
Der
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