Was wir erben (German Edition)
Wahrscheinlich wollte der Vater ein Geschöpf in die Welt setzen, das ähnlich unangreifbar war wie diese Uta. Und dann diese Krankheit. Diese Entzündung. Und der Plan verkehrte sich in sein Gegenteil. Und während ich an den Vater dachte und seinen Plan, umring te mich plötzlich eine Touristengruppe, die gerade durch den Dom geführt wurde. Lauter ältere Leute in beigefarbenen Rentneruniformen. Ein junger Mann sprach zu den alten, müde und enttäuscht dreinschauenden Menschen. Ich musste an den Nachmittag mit Holger im Olympiabad denken. An den toten Mann. An die Trainerin. Und ich hörte zu, was der junge Mann ihnen sagte, und es schien mir, als dringe seine Stimme von ganz weit weg an mein Ohr. Wie eine sanfter Schwall warmen Wassers, eine Welle, die kommt und wieder geht. Regelmäßig. Beruhigend. Er sprach von Uta und ihrem Mann. Von der jahrhundertealtenRezeptionsgeschichte, vom Mythos Uta, von der Vereinnahmung durch die Nazis, von der unendlichen Überlagerung der Geschichten, die dieses Gesicht im Laufe der Zeit zu einem Palimpsest der unterschiedlichsten Erwartungen und Projektionen gemacht habe. Die Alten schienen etwas desorientiert, sie verstanden gar nicht, wovon die Rede war, aber der junge Mann ließ sich nicht beirren und fuhr fort mit seinen wunderbaren Komplexitätssteigerungen. Mir wurde wieder warm. Ich stellte mich noch näher zu der Gruppe. Der Führer nickte mir bestätigend zu und es kam mir fast so vor, als redete er von da an nur noch für mich. Er erzählte die Geschichte eines Mönches, der als Bildhauer im Auftrag des Naumburger Meisters an der Uta-Skulptur arbeiten sollte. Dieser Mönch habe sich so in seine Arbeit an der Schönheit dieser Figur hineingesteigert, dass er bald durchzudrehen drohte, weil er anfing, die Skulptur anzubeten, den geformten Stein als Götzen zu verehren. Aus lauter Verzweiflung über diese Art der Häresie wollte er das Bild der Uta zerstören, aber stattdessen hackte er sich die rechte Hand ab, um nie wieder als Steinmetz arbeiten zu können. Er bestrafte sich für die Arbeit an dieser Skulptur einer weltlichen Frau, die er zu einer Heiligen gemacht hatte, obwohl sie gar keine Heilige war. Und genau das, sagte der junge Mann, sei bis heute das Bemerkenswertes te an dieser Uta. Ihr werde eine Art der Heiligenverehrung zuteil, die auf gar keine reale, religiöse Figur zurück gehe. Man wisse so gut wie nichts über das historische Vorbilddieser Steinskulptur, außer den Namen und die Lebenszeit. Die Verehrung habe also keinen historischen Ursprung, sondern beziehe sich immer nur auf das Bild einer Frau, die es eigentlich gar nicht gegeben habe. Und somit stelle genau diese Skulptur die beunruhigende Frage nach Ursprung und Beginn von so etwas wie Überlieferung und Wahrheit. Und ob der Gedanke, dass alles erfunden sei, nicht einen tröstlichen Aspekt habe und uns Menschen nicht befreie von der Last der Vergangenheit. Ich hätte den Typen umarmen können. Ja, wollte ich schreien, ja, genau so ist es. Wir schaffen uns ein Bild von der Vergangenheit. That’s it. Mehr nicht. Was soll ich also weiter herumgraben und herausfinden, was los war mit dem Vater und der Mutter und Deiner Mutter und Deiner Entstehung. Der Führer lotste die Reisegruppe weiter. Jetzt, sagte er, bewegen wir uns Richtung Westen und besuchen einen Ort der Stille. In der sogenannten Elisabethkapelle befinde sich die wohl älteste bildliche Darstellung der heiligen Elisabeth von Thüringen in Stein. Das wusste ich nicht. Davon hat der Vater nie gesprochen. Die heilige Elisabeth. Ich bin also auch nach einer Figur in dieser Kirche benannt. Wahrscheinlich war dem Vater das gar nicht bewusst, sonst hätte er doch davon gesprochen oder ein Bild aufgehängt mit dem Abbild dieser Steinskulptur. Oder war ich ihm nicht so wichtig? Ist ihm dieser Name nur passiert, war das eine unbewusste Entscheidung? Einmal habe ich die Mutter gefragt, warum sie mir diesen Namen geben haben. Dein Vater, sagte sie, wollte dich Petranennen. Elisabeth sei die einzige Alternative gewesen, auf die er sich eingelassen habe. Diese Elisabeth, sagte der junge Mann, als wir in die Kapelle traten, hat einen riesigen Kopf, weil man im Inneren die Reliquien der Heiligen aufbewahrt hat. Warum trägt die heilige Elisabeth ein Buch im Arm, fragte eine von den Alten. Das sei ihm auch rätselhaft, gestand der Guide. Wahrscheinlich handele es sich um ein Exemplar der Heiligen Schrift, aber das sei nicht genau zu ermitteln. Auch da
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