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Was wir erben (German Edition)

Was wir erben (German Edition)

Titel: Was wir erben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: BjÖrn Bicker
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versuche, alles zu vergessen. Sonst kann ich nicht schlafen. Als ich hier in der Pension angekommen bin, habe ich Valons Nachricht, die mir der Polizist auf dem Revier in N. übergeben hatte, unter das große, glänzende Kissen gelegt. Und jeden Abend vor dem Einschlafen habe ich den Zettel glatt gestrichen und gelesen, was Valon geschrieben hat. Als Erinnerung daran, warum ich hier bin. Als Gute-Nacht-Kuss. Auf dem Zettel steht:
Vielleicht brauche ich Deine Hilfe. Was ist mit Deiner Liebe? Der Kampf geht weiter.
Und dann noch der Name von einem Freund in Pristina, dort solle ich mich erkundigen, wo er sei. Und als ich gesehen habe, dass es von Wien aus die billigsten und schnellsten Verbindungen nach Pristina gibt, habe ich mich auf den Weg gemacht. Hier kenne ich mich aus.
    Vielleicht ist Valon der Vater dieses Zellhaufens in meiner Gebärmutter. Vielleicht ist es Holger.
    Gehe ich zu Holger, muss ich ihm alles beichten. Gehe ich zu Valon. Was dann? Es gibt noch eine dritte Variante: Ich bleibe allein. Das scheint mir im Moment das Tröstlichste zu sein. Nur eins gibt es nicht: die Rückkehr ins Theater. Ich will nicht mehr spielen.
    Der alte Ungar nebenan hat mich aus dem Schlaf gerissen. Es war Punkt sieben.
Radetzky-Marsch
. Eindeutig über Zimmerlautstärke. Ich habe eine Hose und ein Hemd übergezogen und bin auf den Flur. Die Wirtin kam gerade die Treppe rauf. Das habe sie vergessen, mir zu sagen. Sie bitte vielmals um Entschuldigung. Der Herr E. höre jeden Sonntagmorgen um Punkt sieben dieses Musikstück. Das tue er schon seit Jahren, alle Versuche, ihm das abzugewöhnen, seien gescheitert, sie habe das Musikprogramm schon als kulturelles Highlight in ihre Hotelbroschüre übernommen. Erstaunlicherweise sei die Zahl der Anmeldungen junger, amerikanischer Rucksacktouristen seitdem in die Höhe geschnellt. Diese Reminiszenz an k.u.k. wisse der junge Amerikaner anscheinend zu schätzen. Der Ungar sei sozusagen ihr Ungeheuer von Loch Ness. Rein touristisch gesehen. Natürlich hinke der Vergleich. Wie alle Vergleiche hinkten. Zumal der Ungar berechenbar sei, was sein Auftauchen betreffe, ganz im Gegenteil zu jenem Ungeheuer, sie wisse auch nicht, wie sie ausgerechnet jetzt auf diesen Vergleich gekommen sei, irgendeinen Grund werde das schon haben. Und tatsächlichkamen ein paar verschlafene Studentengesichter die Treppe von oben herunter und versammelten sich vor der Tür des Ungarn. Die Wirtin beendete ihre Reflexionen, reichte Donauwellen, und als das Musikstück beendet war, der Ungar drinnen mit den Hacken zusammengeschlagen hatte, da verschwanden alle wieder in ihren Zimmern. Ich auch. Wann wollen Sie denn Ihre Rechnung begleichen, fragte mich die Wirtin hinterrücks. Heute ist doch Sonntag. Wollten Sie nicht. Ich brauche noch ein paar Stunden, antwortete ich ihr. Lassen Sie sich Zeit, beruhigte sie mich, schnippte mit den Fingern und rief:
Radetzky-Marsch
. Bei ihm, dem Herrn E., habe es auch so angefangen. Bleiben Sie, solange Sie wollen!
    Anrufliste: Dreimal Holger. Fünfmal Nele. Die Mutter. Sechsmal Nummer unterdrückt. Ich schalte das Handy wieder aus und schreibe weiter. Heute Abend geht der Flug. Das Zugticket nach München ist ab heute gültig. Klar, ich kann auch noch später nach Pristina, das ist kein Problem. Aber wenn ich heute nicht nach München fahre, dann gibt es morgen einen Eklat am Theater. Es sind noch drei Wochen Proben bis zur Premiere, und wenn da die Hauptdarstellerin (auch wenn ich keinen Text habe) nicht zur ersten Probe erscheint und niemand weiß, wo ich bin, dann wird der Notstand ausgerufen. Die Frage ist nur, ob ich das Elend verlängere und diese Produktion zu Ende bringe oder ob ich gleich alles hinwerfe.
    Holger rechnet heute mit mir.
    Hofffmann haben sie nach drei Tagen von der Intensivstation in ein normales Zimmer verlegt. Er hat sich erstaunlich schnell von seinem Absturz erholt. Meistens stand er am Fester und rauchte, wenn ich zu ihm kam. Die Medikamente, die ihm den neuerlichen Entzug erleichtern sollten, machten allerdings einen müden Mann aus ihm. Seine Bewegungen waren verlangsamt, sein Gesicht fast orange, der Atem roch wie ein Windhauch aus dem Desinfektionszimmer der Klinik. Er lächelte angestrengt, wenn er mich sah. Es war der Versuch, verschmitzt zu wirken, aber die Scham, die er empfunden haben musste, konnte er nicht verbergen. Hofffmann war ein schlechter Schauspieler. Hofffmann war am besten, wenn er sich sicher fühlte und frei war, jetzt plötzlich

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