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Was wir Liebe nennen

Was wir Liebe nennen

Titel: Was wir Liebe nennen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Lendle
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eine Klarsichtfolie mit allerlei Papieren heraus. Den obersten Zettel presste er gegen das Holz der Kiste, tippte mit einem Daumen auf die gestrichelte Linie am Fuße des Blattes und hielt ihr einen Bleistiftstummel hin.
    Die Mine drückte sich durch das Papier, als sie ansetzte. Kaum gelang es ihr, den Stift zu lenken, überall führte die Maserung oder ein S plitter sie auf falsche Fährten. Wie fremd ihre Unterschrift aussah. Kindisch, betrunken, verwirrt. Schon klopfte der Mann auf den nächsten Zettel. Ein Blatt nach dem anderen unterzeichnete sie. Was immer es war – Zoll, Quarantäne, Lebend Abfahrt/Lebend Ankunft –, Fe quittierte alles. Endlich stopfte der Mann die Belege zurück in seine Mappe, öffnete mit einem Schlüsselchen das Schloss der Transportkiste und zog schimpfend von dannen.

6
    Nach langem Warten bekam jeder von ihnen einen Einkaufsgutschein im Wert von zehn Euro, damit sie sich etwas zu essen holen konnten. Oder damit sie Ruhe gaben, es war erstaunlich, wie schnell die Ersten in der Lage waren, sich über die unterbrochene Reise zu beschweren.
    Zusammen mit dem Gutschein erhielt jeder Fluggast ein Papier, das ihn über seine Rechte im Fall eines unvorhergesehenen Ereignisses informierte. Die Auskunft schien auf seine Mitreisenden eine anregende Wirkung zu haben. Lambert dachte darüber nach, ob in seinem bisherigen Leben nicht die meisten Ereignisse unvorhergesehen gewesen waren, aber er mochte sich täuschen. Zumindest erfuhr er nun, was einem in solchen Fällen zustand. Am Fuß des Blattes war eine einzelne Zeile hervorgehoben: All claims for missing gods must be made within six working days. Lambert schloss kurz die Augen. Als er die Zeile noch einmal las, stand dort missing goods .
    Er saß mit Viola und Sascha in den breiten schwarzen Ledersesseln eines Cafés, hinter ihnen das Glasfenster zum Rollfeld, vor ihnen der Trubel der Flughafenhalle. Niemand sagte ein Wort. Es gab einen Schnellimbiss, vor dem sich rasch eine Schlange bildete. Lambert fragte sich, ob für solche Fälle ein Notmenü bereitstand, ein einfaches, sättigendes Gericht, nach der ganzen Aufregung nicht allzu scharf gewürzt, das genau zehn Euro kostete. Er selbst konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, etwas zu essen.
    Abgesehen von den an ihren Gutscheinen zu erkennenden Mitreisenden war die Halle voll mit Soldaten. Die Männer trugen helle Wüstenuniform, als läge hier überall Sand. Das Cremeweiß leuchtete im Zwielicht der Halle, als Tarnfarbe war es in dieser Umgebung kaum geeignet. Auf den Ärmeln trug jeder Soldat das Wappen seiner Einheit, einen Löwen, ein Pferd, einen Biber. Es sah aus wie ein Zoo auf Betriebsausflug. Was war ihre Mission?
    Auf der Herrentoilette des Flughafens fiel Lambert ein, dass er Kathy, der Organisatorin des morgigen Auftritts, seine Ver s pätung melden musste. Er schrieb ihr eine kurze Nachricht von seinem Missgeschick. Dann saß er einfach da, stützte sein Kinn auf die Hände und starrte vor sich hin, bewegungslos, gedankenlos. Er hörte die Tür zum Waschraum gehen, jemand öffnete eine der Kabinen neben Lambert, ließ sich stöhnend auf die Klobrille fallen und vollzog dann geräuschvoll sein Geschäft. Anschließend schnäuzte er sich, fluchte leise und verließ endlich die Kabine, wobei er eine kleine Melodie vor sich hin summte. Dem Klimpern nach zu urteilen schloss er seinen Gürtel erst bei den Waschbecken. Der Wasserstrahl rauschte so kurz, dass er kaum seine Hände benetzt haben konnte. Das Summen wurde leiser, der andere löschte das Licht und öffnete die Tür zur Flughafenhalle, kurz war das Stimmengewirr von draußen zu hören, dann fiel sie zu, und Lambert saß in vollkommener Dunkelheit.
    Und wenn er so sitzen bliebe? Es dauerte eine Weile, bevor Lambert sich entschließen konnte, aufzustehen. Er malte sich aus, wie ihre Reise weiter verlaufen mochte, er versuchte sich für den Fall seiner irgendwann doch noch glücklichen Ankunft den Ablauf des morgigen Abends vorzustellen, er dachte an seinen Vater und ob er ihm, wenn der Flug anders geendet hätte, wohl irgendwo begegnet wäre. Er stellte sich vor, wie es dort aussehen mochte. Dann erinnerte er sich, wie der andere Mann das Aufstehen geschafft hatte, schnäuzte sich ebenfalls, fluchte leise und erhob sich dann endlich, mit demselben leisen Summen.
    Als er sich zum Waschbecken

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