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Was wir Liebe nennen

Was wir Liebe nennen

Titel: Was wir Liebe nennen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Lendle
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getastet hatte, piepste das Telefon. In der Dunkelheit leuchtete die Nachricht auf dem Di s play: Er solle so schnell wie möglich umbuchen, sie zählten auf ihn. Selbst die Grußformel S ee you, Kathy klang wie ein Befehl. Ihn hätte ein Wort der Anteilnahme nicht gestört. Konnten sie nicht froh sein, dass er noch am Leben war?
    Die Tür öffnete sich erneut, ein Mann kam herein und machte das Licht an, ein schwarzer Soldat, der erstaunt die Augenbrauen hochzog, als er feststellte, dass schon jemand hier war. Er stellte sich neben Lambert an die Waschbecken, öffnete einen tarnfarbenen Kulturbeutel und rührte Rasierschaum an. Auch er trug sein Totem am Ärmel, einen Storch. Lambert blieb einfach neben ihm stehen und ließ sich Wasser über die Hände laufen. Beiläufig fragte er, wohin sie unterwegs seien. »That’s confidential, Sir«, sagte der Soldat, während er mit beiden Händen Schaum auf seinem Kopf verteilte . Lambert hätte es sich denken können. An der Tür warf er einen Blick zurück auf den Mann, der eben die Rasierklinge ansetzte und mit einer langsamen Bewegung den ersten Streifen Kopfhaut freilegte.
    Es wurde Nachmittag, bevor sich die Stewardess wieder sehen ließ. Zusammen mit ihren beiden Kollegen trat sie auf, im Gänsemarsch, ihre Uniformen hatten sie gegen die hellgrünen Kombinationen der örtlichen Luftfahrtgesellschaft getauscht, was die Sache nicht besser machte. Lambert war schon dankbar, dass keine Tierwappen aufgenäht waren. Die drei hatten einen kleinen Verstärker dabei, den sie in die Mitte der Abflughalle stellten, einer stöpselte ein Mikrofon ein, und dann standen sie nebeneinander wie eine Schülerband beim Abschlusskonzert, während die Stewardess ihren Text aufsagte: Wie sehr die Airline den unglücklichen Vorfall bedauere, dass man sogleich einige Busse requiriert habe, mit denen nun alle Passagiere in ein Hotel gebracht werden würden. Der Weiterflug verzögere sich bis zum nächsten Morgen. Leider. Kam es Lambert nur so vor, oder schwangen die beiden Stewards während der An s prache tatsächlich kaum wahrnehmbar mit den Hüften?
    Die umsitzenden Soldaten hoben angesichts der Darbietung nur kurz ihre Brauen. Lambert überlegte, welche Wendung sein Leben nehmen würde, wenn er mit dem Soldaten im Waschraum die Kleider getauscht hätte. Gab es für ihn ein anderes Leben, an einem Ort, von dem er nicht mehr wusste, als dass er confidential war? Welches wäre sein Tier, was seine Mission? Einer nach dem anderen erhoben sich neben ihm die Passagiere und zogen ihre Rollkoffer zum Ausgang. Endlich stand auch Lambert auf und schloss sich ihnen an.
    Hinter der gläsernen Schiebetür wartete eine Reihe orangefarbener Schulbusse. Im hintersten entdeckte er Viola und Sascha, die auf der Rückbank Platz gefunden hatten, und setzte sich zu ihnen.
    Die letzten Passagiere mussten im Gang stehen. Die Busse verließen das Flughafengelände und fuhren auf eine Autobahn. Im Inneren die Stille zu dicht gedrängter Menschen. Ein Gefühl wie im Fahrstuhl, allerdings horizontal. Lambert hätte zusammen mit ihnen allen sterben können, und jetzt saß er hier, den Kopf ans Fenster gelehnt, und hörte, wie direkt vor ihm einem Mann der Magen knurrte. Die Polster der Sitze waren bedeckt mit Kugelschreiberzeichnungen, die meisten davon obszön, er hoffte, dass Sascha damit noch nichts anfangen konnte. Um sie und sich abzulenken, schlug er vor, Tiere zu zählen. Jeder von ihnen bekam eine Fahrbahnseite zugeschlagen, aber außer Büschen, Bäumen und Brücken gab es draußen nichts zu zählen. Man müsste, dachte Lambert, eine Typologie der Länder anhand der Architektur ihrer Autobahnbrücken entwickeln.
    Die einzigen Tiere, die sie schließlich entdeckten, waren Kadaver am Rande der Fahrbahn. Von denen allerdings gab es reichlich. Bis zum Ende der Strecke brachten sie es auf zwölf Igel, sieben mit Ausnahme eines Bussards nicht genauer zu bestimmende Vögel, drei Füchse und ein kleines Reh. Angesichts der Tatsache, dass außer ihrem kleinen Konvoi kaum jemand unterwegs war, eine beachtliche Sammlung. Vielleicht bildete der Autobahnabschnitt eine Art Großherbarium, in dem statt der Flora die einheimische Fauna gepresst wurde. Wenn die Busse gerade keine Notlandungsopfer zu ihren Unterkünften brachten, kutschierten sie wahrscheinlich die Biologiekurse

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