Was wir sind und was wir sein könnten: Ein neurobiologischer Mutmacher (German Edition)
in Gang zu halten.
Allzu oft führen kurzfristig erfolgreiche Anpassungsprozesse zur Stabilisierung und Bahnung und damit zur zunehmenden Verfestigung von Vorstellungen und Überzeugungen, die falsch sind. Wenn bestimmte Herausforderungen sehr häufig auftreten, werden zu ihrer Bewältigung kurzfristig erfolgreich eingesetzte und deshalb immer wieder eingeschlagene Strategien für allgemeingültiger gehalten, als sie das in Wirklichkeit sind. Im Ergebnis dieser Prozesse kann es zu einer Vielzahl »erfolgsgebahnter psychischer Erblindungsphänomene« kommen, die sich schließlich sogar als psychische Abhängigkeiten von eben diesen immer wieder eingeschlagenen Strategien des Denkens, Fühlens und Handelns manifestieren. Es ist bemerkenswert, dass wir im deutschen (im Gegensatz zum englischen) Sprachgebrauch für all diese, bis zur Abhängigkeit gebahnten Bewältigungsstrategien den Ausdruck »Sucht« verwenden: Machtsucht, Karrieresucht, Prunksucht, Geltungssucht, Vergnügungssucht etc.
Personen, die solche einfachen einseitigen Lösungen gefunden haben, halten ihre einmal entwickelten Strategien für allgemeingültiger, als sie in Wirklichkeit sind, und neigen dazu, neue Herausforderungen immer wieder mit den alten, gebahnten Strategien bewältigen zu wollen. Menschen, bei denen solche Autobahnen im Hirn entstanden sind, werden in ihren Haltungen immer rigider, verlieren zunehmend an Flexibilität und stehen sich immer stärker selbst im Wege, wenn es darum geht, nach neuen Lösungen zu suchen. Und wenn sie irgendwann endlich bemerken, wie brüchig das Fundament geworden ist, auf dem sie stehen, ist es nicht selten bereits zu spät. Dann wird die Angst und die damit einhergehende Stressreaktion immer weniger kontrollierbar. Den destabilisierenden Wirkungen dieser Reaktion sind sie hilflos ausgesetzt. Ihr Immunsystem bricht zusammen, das Hormonsystem verliert seine integrative Funktion, die Testosteronspiegel rutschen mitsamt der Libido in den Keller, das Kreislaufsystem spielt verrückt, die Verdauung funktioniert auch nicht mehr richtig, Schlafstörungen werden zu einem Dauerproblem, Ängste machen sich breit und verhindern jeden klaren Gedanken. Jeder, der an diesem Punkt angekommen ist, weiß, dass es so nicht weitergehen kann, dass er eine Möglichkeit finden muss, um diese Reaktion und die damit einhergehenden Destabilisierungsprozesse anzuhalten. Aber wie soll unter solchem Druck eine gute Lösung gefunden werden?
Jede schwerwiegende Irritation oder Belastung erzeugt im Hirn eine sich ausbreitende Erregung, die dazu führt, dass nur noch auf der Ebene der besonders stabilen, durch bisherige Erfahrungen bereits gut gebahnten Verschaltungsmuster ein entsprechendes, handlungsleitendes Aktivierungsmuster aufgebaut werden kann. Deshalb führt jeder Leistungs-, Erwartungs-, Handlungs- oder sonstige Druck immer zum Rückfall in bereits bewährte Strategien. Bisweilen sogar zu Reaktionen, die schon während der frühen Kindheit gebahnt worden sind und – wenn es besonders eng wird – sogar zum Rückfall in archaische Notfallreaktionen. Die sind im Hirnstamm nicht nur bei uns, sondern auch bei Tieren angelegt und führen, wenn sie aktiviert werden, zu Angriff oder Verteidigung, zu panischer Flucht und zuletzt – wenn gar nichts mehr geht – zu ohnmächtiger Erstarrung.
Je größer der Druck und die dadurch sich im Gehirn ausbreitende Erregung wird, desto tiefer geht es also auf der Stufenleiter der noch aktivierbaren, handlungsleitenden Muster wie in einem Fahrstuhl hinab. Das Verhalten wird einfacher. Regression nennen das die Psychologen. Und weil dann im Hirn weniger regionale Netzwerke miteinander synchronisierbar sind und miteinander in Beziehung treten können, werden die Reaktionen auch entsprechend robuster und eindeutiger.
Wir sind keine Maschinen
Viele Menschen glauben noch immer, dass Gesundheit auf einem besonders hohen Maß an innerer Ordnung beruht und dass Krankheit durch die Störung dieser Ordnung verursacht wird. Sie betrachten den Arzt als einen Reparateur, der abgenutzte Teile identifiziert, wieder in Gang setzt oder, wenn das nicht geht, auswechselt. Ein solcher Patient verhält sich weitgehend passiv. Er meint, irgendetwas in seinem Körper (oder in seinem Gehirn) funktioniere nicht mehr richtig, und erwartet vom Arzt eine möglichst rasche und effektive Behebung der aufgetretenen Funktionsstörung. Wenn die Reparatur gelingt, sind beide zufrieden und gehen mit einer gefestigten,
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