Was wir sind und was wir sein könnten
Lebensbedingungen bemühen, die eine Herausformung souveräner und authentischer Persönlichkeiten ermöglichen. Die Beseitigung oder Überwindung von Zwängen, Abhängigkeiten und Vorschriften wäre die Voraussetzung dafür, dass Menschen die Fähigkeit erlangen, sich anstatt gegen etwas für etwas entscheiden zu können. Es geht also darum, nicht von etwas, sondern für etwas frei zu werden, d.h. aus dieser Freiheit heraus Verantwortung zu übernehmen.
In Wirklichkeit existiert ja kein Mensch für sich allein. Jeder Mensch ist eingebunden in eine Welt, die er braucht, um zu überleben. Und jeder Mensch ist oder war zumindest am Anfang seines Lebens auf untrennbar enge Weise mit anderen Menschen verbunden. Sonst hätte er nicht überleben können. Deshalb lässt sich die Frage, wie frei wir sind, gar nicht beantworten, wenn wir unbeantwortet lassen, wie verbunden wir sind. Es gibt keine Freiheit ohne Verbundenheit. Aber Verbundenheit ist nicht Abhängigkeit. Wir Menschen sind in der Lage, unsere Beziehungen zu anderen Menschen, ja sogar zu Tieren und Pflanzen so zu gestalten, dass wir uns mit ihnen verbunden fühlen, ohne von ihnen abhängig zu sein. Aber dazu müssten wir uns um diese anderen kümmern oder zumindest bereit sein, all das, was wir haben, mit ihnen zu teilen. Unsere Nahrung, unseren Lebensraum, unsere Aufmerksamkeit, unsere Kraft, unser Wissen, unser Können, unsere Erfahrungen. Wenn wir dazu in der Lage wären, wären wir gleichzeitig verbunden und frei.
Wir könnten bewusster und umsichtiger sein
Bewusste Abwägungen und Willensentscheidungen, auch bewusste Wahrnehmungen, Unterscheidungen, ja selbst das bewusste Erleben der eigenen Identität sind in hohem Maß durch andere Personen beeinflussbar. Das gilt nicht nur für Erwachsene, sondern in noch viel stärkerem Maß für Kinder. Im kindlichen Gehirn werden die für bewusste Zustände aktivierten Metarepräsentanzen nicht nur durch andere Menschen beeinflusst, sondern unter dem Einfluss der im Zusammenleben mit anderen Menschen gemachten Erfahrungen erst herausgeformt. Um diese komplexen Vernetzungen herauszubilden, braucht jeder Mensch eine bestimmte Sequenz und Qualität von Erfahrungen. Diese Erfahrungen kann er aber nur dann machen, wenn ihm bereits als Kind von Anfang an Gelegenheit geboten wird, mit den Objekten seiner Lebenswelt – und das sind in erster Linie höchst lebendige Subjekte in Form von Eltern, Geschwistern, von Mitgliedern der eigenen Sippe, der dörflichen oder städtischen Gemeinschaft und letztlich des Kulturkreises, in den ein Kind hineinwächst – in Beziehung zu treten, sich auszutauschen, sich an andere Personen anzuschließen oder sich von ihnen abzugrenzen, Wissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten von anderen zu übernehmen und dabei immer wieder neue, eigene Erfahrungen zu machen. Nur so kann sich ein Kind seiner selbst bewusst werden, sich als eine eigenständige Person mit eigenen Fähigkeiten, Vorstellungen und Gefühlen mit eigenen Wünschen und Bedürfnissen erkennen. So wird nun auch verständlich, weshalb der Grad an Bewusstheit oder die Bewusstseinsstufe, die ein Kind entwickeln kann, von dem Bewusstseinsstand abhängig ist, der in der Welt der Erwachsenen herrscht, in die es hineinwächst.
Aus dieser Perspektive betrachtet, erweist sich also die Fähigkeit von Menschen, bewusst zu handeln, sich ihrer selbst bewusst zu werden, ihr Bewusstsein zu schärfen und zu erweitern, als eine Kulturleistung. Der Ort, an dem das Bewusstsein entsteht, wäre dann freilich nicht im Hirn, sondern in der soziokulturellen Struktur einer menschlichen Gemeinschaft zu suchen. Bewusstsein wäre dann auch nicht eine Fähigkeit, die automatisch entsteht, weiter wächst und sich vom anfänglichen mythischen Bewusstsein über das personale Ich-Bewusstsein bis hin zum transpersonalen oder transzendentalen Bewusstsein entwickelt. Es könnte ebenso gut – wenn die transgenerationale Weitergabe von Erfahrungen in einem bestimmten Kulturkreis behindert oder gestört wird – wieder von bereits erreichten höheren Stufen auf die niederen zurückfallen.
In gewisser Weise lässt sich die Fähigkeit, Bewusstsein zu entwickeln, mit der Sprachentwicklung vergleichen. Zwar bilden sich bei jedem Kind, das in einer menschlichen Gemeinschaft aufwächst, in der Menschen gelernt haben, sich verbal zu verständigen, die von den Hirnforschern lokalisierbaren Sprachzentren aus. Aber die Fähigkeit zu sprechen und Gesprochenes zu verstehen,
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