Was wir sind und was wir sein könnten
Selbstregulation und zur Selbstreflexion, gut ausgebildete Kontrollüberzeugungen und Selbstwirksamkeitskonzepte, Frustrationstoleranz und Flexibilität. Bei vielen sind die Konfliktlösungskompetenz, die Planungs- und Handlungskompetenz und die Fähigkeit zur konstruktiven Beziehungsgestaltung nur unzureichend entwickelt. Diese Menschen erleben sich allzu leicht als ohnmächtig, als ausgeliefert und fremdbestimmt. Dieser Mangel an eigenen Kompetenzen zur Stressbewältigung wird noch enorm verstärkt durch einen hohen Erwartungsdruck, durch eigene unrealistische Vorstellungen und durch einen Mangel an kohärenten, sinnstiftenden und haltbietenden Orientierungen.
Diese Defizite sind nicht erst im oder durch das Berufsleben entstanden. Sie sind eine zwangsläufige Folge früher, oft schon während der Kindheit, spätestens aber in der Schule und während der Ausbildung gemachter und im Berufsleben weiter bestärkter Erfahrungen eigener Unzulänglichkeit, unzureichender psychosozialer Unterstützung und fehlender Orientierungen. Mit andere Worten heißt das: In den hochentwickelten Industriestaaten gibt es für zu viele Menschen während der Phase der Hirnentwicklung zu wenige stärkende und stark machende und dafür zu viele schwächende und schwach machende Erfahrungen.
Wie die neueren Ergebnisse der Hirnforschung zeigen, werden Erfahrungen immer gleichzeitig auf der kognitiven, auf der emotionalen und auf der körperlichen Ebene in Form entsprechender Denk-, Gefühls- und körperlicher Reaktionsmuster verankert und aneinander gekoppelt (»Embodiment«).
Aus diesem Grund sind alle späteren Versuche, die Stressbewältigungsfähigkeit von Menschen durch kognitive Fortbildungsprogramme zu verbessern, zwangsläufig zum Scheitern verurteilt, wenn dabei nicht gleichzeitig auch die emotionalen (Gefühle, Einstellungen, Haltungen) und die körperlichen Ebenen (Bewegung, Körperbeherrschung, Körperhaltung) mit einbezogen werden. Nur wenn Menschen neue Erfahrungen von Selbstwirksamkeit, Gestaltungskraft und Entdeckerfreude am eigenen Körper und unter Aktivierung ihrer emotionalen Zentren machen, können diese Erfahrungen auch nachhaltig in Form entsprechender neuronaler Verschaltungsmuster in ihrem Gehirn verankert werden. Nur so lässt sich ihre Resilienz, also ihre Stressbewältigungsfähigkeit, auch noch im Erwachsenenalter stärken.
Unser Gehirn ist eine Baustelle, und zwar nicht nur während unserer Kindheit, sondern lebenslang. Und das ist gut so. Wäre das Gehirn im erwachsenen Zustand nämlich so etwas wie ein fertiges Haus, so gäbe es keine Möglichkeit, ein solches Haus, wenn es aus irgendwelchen Gründen schief geworden ist, später noch so umzubauen, dass es wieder aufrecht und stabil auf seinem Fundament ruht. Wie die Hirnforscher inzwischen an vielen Beispielen zeigen konnten, wird unser Erleben von uns selbst und von den Erfahrungen, die wir in der Beziehung zu unserer Mitwelt machen, ständig neu kreiert. Muster des Erlebens und Verhaltens, die wir unter emotionaler Beteiligung aktivieren, werden verstärkt und als neuronale Verschaltungsmuster strukturell verankert, das heißt sie werden im Gehirn »verkörpert«. Das bedeutet, dass wir zu jedem Zeitpunkt unseres Lebens die bisher herausgeformten Verschaltungen in unserem Gehirn auch neu konstruieren können. Wir müssten dazu eines dieser bisher benutzten motorischen, sensorischen, kognitiven oder affektiven Muster verlassen, also beginnen, anders zu sehen, zu fühlen oder zu handeln.
Wenn es uns gelingt, auf einer dieser Ebenen ein neues Muster auszubilden, so werden alle anderen Ebenen davon gleichsam »mitgezogen«. Wenn wir damit beginnen könnten, die Welt anders als bisher zu betrachten oder anders zu denken, wenn es uns gelänge, nicht immer mit den gleichen Gefühlen auf dieselben Auslöser zu reagieren oder vielleicht auch nur eine andere Körperhaltung einzunehmen, so hätte das enorme Folgen für alles, was auf der Baustelle »Gehirn« passiert. Denn dann werden nicht nur diejenigen neuronalen Verschaltungsmuster umgebaut, die an dieser neuen Leistung beteiligt sind, sondern ebenso auch alle anderen, die damit auf irgendeine Weise Verbindung stehen.
Das menschliche Gehirn ist aber nicht nur umbaufähiger als bisher angenommen. Die Wahrnehmung und das Empfinden und Denken und das Fühlen, auch die Stimmungen und die Körperhaltung und all das, was im Körper passiert, sind viel enger miteinander verbunden und aneinander gekoppelt, als
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