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Washington Square

Washington Square

Titel: Washington Square Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry James
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hatte, allerdings mit einer etwas verwunderlichen Schlußfolgerung. »Ich erwarte nichts«, sagte er sich, »so daß es, wenn sie mir eine Überraschung bereitet, ein einziger klarer Gewinn ist. Und wenn sie es nicht tut, so ist es kein Verlust.« Das war um die Zeit, als Catherine ihr achtzehntes Lebensjahr erreicht hatte, woraus sich ersehen läßt, daß ihr Vater sich nicht übereilt hatte. Zu dieser Zeit schien sie nicht nur unfähig, Überraschungen zu bereiten, sondern vielmehr war es fast die Frage, ob sie welche |21| hätte erleben können, so ruhig und teilnahmslos war sie. Leute, die sich grob ausdrücken, nannten sie stupide. Aber sie war teilnahmslos, weil sie schüchtern war, unangenehm, bedrückend schüchtern. Das wurde nicht immer verstanden, und manchmal rief sie den Eindruck von Stumpfheit hervor. In Wirklichkeit war sie das mitfühlendste Geschöpf der Welt.

|22| 3. KAPITEL
    Als Kind hatte sie die Erwartung geweckt, groß zu werden; aber als sie sechzehn war, hörte sie auf zu wachsen und ihre Statur war, wie das meiste andere ihrer Körperbildung, nicht ungewöhnlich. Sie war jedoch kräftig und gut gebaut, und ihre Gesundheit war glücklicherweise ausgezeichnet. Es wurde bereits festgestellt, daß der Doktor ein Philosoph war, aber ich hätte nicht für seine Philosophie eingestanden, wenn das arme Mädchen schwächlich und leidend gewesen wäre. Ihr gesundes Aussehen war in erster Linie der Grund, ihr ein Anrecht auf Schönheit zuzubilligen. Und ihre reine, frische Haut, auf der weiß und rot völlig gleichmäßig verteilt waren, sah wirklich vorzüglich aus. Ihre Augen waren klein und unauffällig, ihre Gesichtszüge ziemlich füllig und ihre langen Haare braun und glatt. Ein langweiliges, reizloses Mädchen, so nannten sie unnachsichtige Kritiker, ein zurückhaltendes, damenhaftes Mädchen hingegen die phantasievolleren, doch weder von den einen noch von den andern wurde sie eingehend erörtert. Als ihr zu gegebener Zeit bedeutet wurde, daß sie eine junge Dame sei – und sie brauchte eine gute Weile, bis sie es glauben konnte –, entwickelte sie auf einmal eine lebhafte Vorliebe für Kleidung: eine lebhafte Vorliebe ist genau der treffende Ausdruck dafür. Ich glaube, ich müßte es ganz klein schreiben: ihr Urteil auf diesem Gebiet war keineswegs unfehlbar: es war Verwirrungen und Verlegenheiten ausgesetzt. Ihre große Hingabe an diese Angelegenheit war in Wirklichkeit |23| das Verlangen einer wenig wortgewandten Natur, sich kundzutun; sie suchte, durch ihre Kleidung sprechend zu sein und ihren Mangel an Ausdrucksvermögen durch eine auffällige Freimütigkeit der Kleidung wettzumachen. Doch wenn sie versuchte, sich durch ihre Kleidung auszudrücken, so ist es den Leuten gewiß nicht zu verdenken, wenn sie Catherine nicht für geistreich hielten. Man muß hinzufügen, daß sie zwar ein Vermögen zu erwarten hatte – Dr. Sloper hatte lange Zeit 20 000 Dollar im Jahr verdient und die Hälfte davon beiseite gelegt –, daß aber der Geldbetrag, der ihr zur Verfügung stand, nicht höher war als das Taschengeld, das viele ärmere Mädchen bekamen. Zu jener Zeit flackerten in New York noch immer einige Altarfeuer im Tempel republikanischer Schlichtheit, und Dr. Sloper hätte es gern gesehen, wenn seine Tochter mit klassischer Grazie als Priesterin dieses sanften Glaubens aufgetreten wäre. Insgeheim verzog er ziemlich sein Gesicht, wenn er daran dachte, ein Kind von ihm könnte abstoßend oder übertrieben gekleidet sein. Er selbst schätzte die Annehmlichkeiten des Lebens und machte beträchtlichen Gebrauch von ihnen; aber er hatte einen Abscheu vor Vulgarität und sich sogar die Theorie zurechtgelegt, daß sie in der Gesellschaft, die ihn umgab, im Zunehmen sei. Außerdem war der Standard des Luxus in den Vereinigten Staaten vor dreißig Jahren keineswegs so hoch wie gegenwärtig, und Catherines kluger Vater vertrat die altmodischen Ansichten bezüglich der Erziehung von Jugendlichen. Hierüber hatte er keine besondere Theorie, und er war bis jetzt kaum in die Zwangslage geraten, zu seiner Selbstverteidigung eine Sammlung von Theorien bereitzuhalten. Es schien ihm lediglich gehörig und vernünftig, daß eine wohlerzogene junge Dame nicht ihr |24| halbes Vermögen auf dem Rücken herumtrug. Catherines Rücken war breit und hätte eine ganze Menge tragen können, aber unter dem Druck des väterlichen Mißfallens wagte sie niemals ihn zu enthüllen, und unsere Heldin wurde zwanzig Jahre alt,

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