Washington Square
sich damit, seine Wünsche hinsichtlich Catherine sehr entschieden zu äußern in Form eines klaren Ultimatums.
Einmal, als das Mädchen etwa zwölf Jahre alt war, hatte er zu Mrs. Penniman gesagt:
»Versuche aus ihr eine kluge Frau zu machen, Lavinia; ich möchte, daß sie eine kluge Frau wird.«
Mrs. Penniman blickte daraufhin einen Augenblick gedankenvoll drein. »Mein lieber Austin«, fragte sie dann, »denkst du, es ist besser klug zu sein als gut?«
|16| »Gut wofür?« entgegnete der Doktor. »Man ist für nichts gut, wenn man nicht klug ist.«
Mrs. Penniman sah keinen Grund, dieser Feststellung zu widersprechen. Möglicherweise erwog sie, daß ihr eigener großer Nutzen in der Welt ihrer Befähigung für vielerlei zu verdanken war.
»Natürlich wünsche ich, daß Catherine gut wird«, sagte der Doktor am nächsten Tag, »aber sie wird nicht weniger rechtschaffen sein, wenn sie kein Dummkopf ist. Ich befürchte nicht, daß sie böse wird; ihr Charakter wird niemals die Bitterkeit der Böswilligkeit aufweisen. Sie ist ›so gut wie gutes Brot‹, wie die Franzosen sagen. Aber in sechs Jahren möchte ich sie nicht vergleichen müssen mit einem guten Butterbrot.«
»Befürchtest du, daß sie langweilig wird? Mein lieber Bruder, ich bin es, die für die Butter sorgt; du brauchst also nichts zu befürchten!« sagte Mrs. Penniman, die die »vielseitige Ausbildung« des Kindes in die Hand genommen hatte, indem sie sein Klavierspiel beaufsichtigte, worin Catherine ein gewisses Talent zeigte, und indem sie mit ihm zum Tanzunterricht ging, wo Catherine, wie man gestehen muß, nur eine mäßige Figur machte.
Mrs. Penniman war eine große, hagere, blonde, ziemlich verwelkte Frau mit durchaus gutherzigem Wesen, einem hohen Grad an Wohlerzogenheit, einer Vorliebe für Unterhaltungsliteratur und einem gewissen töricht wirkenden Mangel an Direktheit und Offenheit des Charakters. Sie war romantisch, sie war sentimental und sie hatte eine Passion für kleine Geheimnisse und Heimlichkeiten, eine sehr unschuldige Leidenschaft, da ihre Geheimnisse bisher immer so wenig hergaben wie faule Eier. Mrs. Penniman war nicht völlig aufrichtig, doch dieser Mangel hatte keine große Bedeutung, da sie nie |17| etwas zu verbergen hatte. Sie hätte gern einen Liebhaber gehabt, um mit ihm unter einem Decknamen zu korrespondieren und die Briefe in einem Laden zu hinterlegen. Ich fühle mich verpflichtet zu sagen, daß ihre Einbildungskraft die Vertraulichkeit nie weiter trieb als bis zu diesem Punkt. Mrs. Penniman hatte nie einen Liebhaber gehabt, doch ihr Bruder, der sehr scharfsinnig war, rechnete mit einem Gesinnungswandel bei ihr. »Wenn Catherine um die siebzehn ist«, sagte er sich, »wird Lavinia den Versuch unternehmen und ihr einreden, daß irgendein junger Mann mit Schnurrbart sich in sie verliebt hat. Das wird völlig unrichtig sein. Kein junger Mann, ob mit oder ohne Schnurrbart, wird sich jemals in Catherine verlieben. Aber Lavinia wird sich damit beschäftigen und mit ihr darüber sprechen. Vielleicht spricht Catherine, wenn Lavinias Vorliebe für heimliche Unternehmungen bei ihr keinen Anklang findet, sogar mit mir darüber. Catherine wird es nicht begreifen und sie wird es nicht glauben – zum Glück für ihren Seelenfrieden. Die arme Catherine ist nicht romantisch.«
Sie war ein gesundes, gut gewachsenes Kind, ohne eine Spur von der Schönheit ihrer Mutter. Sie war nicht häßlich, sie hatte lediglich einen reizlosen, uninteressanten, sanften Gesichtsausdruck. Das Höchste, was jemals zu ihren Gunsten geäußert wurde, war, sie habe ein »nettes« Gesicht. Und obwohl sie eine Erbin war, hatte noch niemals jemand daran gedacht, sie für eine Schönheit zu halten. Die Meinung ihres Vaters hinsichtlich ihrer moralischen Untadeligkeit war voll gerechtfertigt; sie war ausnehmend und unbeirrbar gut, liebevoll, fügsam, folgsam und durchaus geneigt, die Wahrheit zu sagen. In jüngeren Jahren war sie ein ziemlicher Wildfang gewesen, und obwohl es ein peinliches Geständnis für eine |18| Romanheldin ist, muß ich hinzufügen, daß sie so etwas wie ein Vielfraß war. Soviel ich weiß, stahl sie nie Rosinen aus der Speisekammer, aber sie gab ihr Taschengeld für Sahnetörtchen aus. Eine kritische Haltung hierzu wäre jedoch unvereinbar mit einer aufrichtigen Bezugnahme auf die frühen Annalen eines jeden Biographen. Catherine war unbestreitbar nicht klug; sie war nicht geschickt beim Unterricht und gewiß auch sonst nicht. Sie
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