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Wasser zu Wein

Wasser zu Wein

Titel: Wasser zu Wein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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Gedanken resolut von sich und schlug die Bettdecke zur Seite. So sterben, hatte er irgendwann einmal feierlich erklärt. Mit einem Glas Wein in der Hand. In einem der schönsten Weinkeller, die er kannte. Umgeben von Hektolitern der feinsten Weine der Welt. So sterben. So möge der Tod ihn ereilen.
    Alles Quatsch, wußte er heute. Sterben? Mußte das sein?

4
    Klein-Roda in der Rhön
     
    Bremer liebte sein Dorf und das ganze grelle stinkende laute Landleben. Was konnte ein gerade mal fünfzehn Familien umfassender Weiler bloß für ein Spektakel veranstalten! Aus einem langgestreckten Stall drei Höfe weiter, auf der linken Straßenseite, kam eine Wolke von Ammoniak herübergeweht – und durchdringendes Schreien. Bauer Knöss fütterte seine hysterischen Mastschweine. Ein Haus weiter heulte die Töle der Tröllers. Der Terrier hatte schon die ganze Nacht hindurch geklagt. Hoffentlich war das Vieh bald heiser.
    Bremer hatte sich im Laufe der Jahre an alles gewöhnt: an Lärm, Gestank und Tod. In Klein-Roda wurde immer irgend etwas vergiftet oder sonstwie umgebracht. Und es wurde immer irgendwas gebrüllt. Gottfried, dessen Hof etwas oberhalb lag und der deshalb Bremers Haus voll unter Kontrolle hatte, brüllte ihm jeden Tag einen Morgengruß zu. Die Beckers von nebenan brüllten nach ihren ungezogenen Kindern. Alle brüllten nach Bello, dem Bernhardiner, der gerne auf Trebe ging, um in jedem zugänglichen Garten riesige Krater für seine Geschäfte auszuheben. Und am meisten mußte man brüllen, wenn Erwin auf seinem Bulldog vorbeigedieselt kam, auf dem alten Lanz, einem Trecker, der gebaut worden war, bevor die Welt Lärmschutzverordnungen kannte.
    Von rechts, von der Hauptstraße her hörte Bremer jetzt ein vertrautes Hämmern und Wummern, das sich zu einem rhythmischen Crescendo steigerte. Mit hochgezogenen Augenbrauen sah er zu, wie sein Nachbar Willi versuchte, den Zigarettenautomaten zur Freigabe eines Päckchens Zigaretten zu überreden. Dramatische Szenen hatten sich hier schon abgespielt, der Automat war getreten, geschüttelt, geschlagen worden. Ein völlig frustrierter Raucher hatte vor zwei Monaten eine Flasche Bier daran zertrümmert. Und ein Ferienbesucher aus dem Ruhrpott hatte ihn mit Handkantenschlägen traktiert.
    »Gib’s auf, Willi«, rief er ihm zu. Aber Willi hatte seine eigenen Methoden und deshalb heute schon nach etwa drei Minuten Erfolg. Resigniert sah Bremer dem Unausweichlichen entgegen: die Zellophanhülle um das Zigarettenpäckchen herum, die Willi jetzt herunterriß, würde unter Garantie wieder da landen, wo sie immer landete. Oder? Willi schien zu zögern. Aber dann holte seine Hand zu einer eingespielten Bewegung aus. Die Zellophanhülle landete in den Rosen in Bremers Vorgarten. Wie immer. Damit du was zu tun hast, schien Willis Gesichtsausdruck zu sagen, eine Mischung aus Unschuld und Unverfrorenheit. Bremer mußte gegen seinen Willen lachen.
    Willi grinste zurück und schlurfte auf ihn zu, in grünen Gummistiefeln über dem ebenfalls olivgrünen Overall. Er hatte sich die erste Zigarette schon zwischen die Lippen gesteckt, das Feuerzeug aus der Tasche geholt.
    »Und wie?« sagte er zur Begrüßung.
    Bremer wunderte sich zum zigsten Mal, warum sein um ein Jahr jüngerer Nachbar zu jeder Jahreszeit ein farbloses, lappiges Hütchen auf den dunklen Locken trug. Das Kleidungsstück war kreisrund, hatte eine mit sechs Steppnähten in Form gehaltene schmale Krempe und ein mit einem Druckknopf verschlossenes Täschchen, das Willi meist an der rechten Seite trug. Oben war der Hut ein bißchen eingedellert, wie ein ausgebeulter Kochtopf. Das formlose Gebilde, wie es auch Angler und deutsche Touristen in Italien tragen, schien keine sichtbare Funktion zu erfüllen. Außer, vielleicht, etwaige kahle Stellen an Männerhinterköpfen zu verdecken. Unwillkürlich fuhr Bremer sich über den eigenen Kopf, durch die knisternden, kurzgeschnittenen Haare. Sie waren zwar weiß – schon seit er 28 war –, aber flächendeckend.
    »Und selbst?« Er schlug mit der Hand nach den Zigarettenrauchschwaden.
    »Bess hat geworfen«, sagte sein Nachbar. Plötzlich sah der Mann wie ein junger Vater aus, der vor Stolz fast platzte. »Ganz allein!«
    »Herzlichen Glückwunsch!« Bremer wußte manchmal nicht genau, ob er seinen Nachbarn rührend oder ein bißchen spinnert finden sollte. Bess und Blume und Zeus, Zottel, Liesel und Brezel waren die Sterne an Willis Firmament. Bauer Knöss hatte ihm deshalb schon mal

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