Wasser
der Antogo-See Schauplatz eines ganz besonderen Ereignisses: Von weither reisen die Menschen an, um an einem traditionellen Fischfang teilzunehmen. Die Ortsansässigen glauben, dass die Fische aus dem Nachbargebirge kommen. Wenn der jährliche Regen fällt, steigt das Wasser und bildet den See. Die Fische werden aus den verborgenen unterirdischen Reservoirs in den Bergen herausgepült und landen im Antogo-See. Am großen Tag versammeln sich Tausende um das kleine Gewässer. Schweigend sitzen sie auf den niedrigen Hügeln, die den See umgeben. Alle warten auf das Signal, das gegeben wird, wenn der Wasserstand optimal ist und die Fische mit den Händen gefangen werden können. Zu Tausenden stürzen die Menschen ins Wasser und stehen dicht an dicht. Im Laufe weniger Minuten ist kein einziger Fisch mehr im See. Die Menschen klettern ans Ufer zurück, und mitunter ist nach einer Stunde auch der See wieder verschwunden.
Aus klimahistorischer Perspektive kann dieser kurze Fischfang die Machtlosigkeit des Menschen gegenüber dem Kreislauf des Wassers symbolisieren. Mögen auch die klimatischen Bedingungen der letzten zehntausend Jahre einen einzigartigen paradiesischen Zustand darstellen, dessen Fortbestehen überaus zweifelhaft ist,befindet sich die Menschheit insgesamt doch in derselben Situation wie die Fischer am Antogo-See, wenn der ideale Wasserstand erreicht ist. Dieser festliche Fischfang ist ein Fruchtbarkeitsritual, das ein weiteres Paradox der Geschichte zusammenfasst: die Abhängigkeit der Gesellschaft von der Macht des Wassers und der Natur. Auch wenn der See zeitweilig verschwindet, ist die Existenz der dortigen Gesellschaft nicht gefährdet. Die Menschen können schlicht etwas anderes tun oder mit ihren wenigen Habseligkeiten an einen anderen Ort ziehen. Die moderne Gesellschaft mit ihren Millionenstädten hat diese Möglichkeit hingegen nicht.
Zu den Flüssen des Himmels und an den Mittelpunkt der Erde
»Ganz sicher«, sagt er, ohne zu zögern und mit festem, etwas düsterem Blick. Es sei unzweifelhaft, dass viele der Gletscher in Tibet schmelzen werden. Ich sitze mit Yao Tandong zusammen, einem der führenden Glaziologen Chinas. Wir befinden uns in seinem Büro in Peking, etwas außerhalb des Stadtzentrums. Seine Freundlichkeit und seine angenehme Ausstrahlung verstärken nur die Dramatik seiner Forschungsergebnisse. Er weiß sicherlich – so denke ich, während ich einige seiner Berichte ansehe –, dass seine Analysen die Zukunft von drei Milliarden Menschen beeinflussen.
Ein halbes Jahr später reise ich nach Tibet – und zwar so, wie man dorthin fahren sollte, wenn man an der strategischen Bedeutung des Landes für die Zukunft der Welt interessiert ist: nicht mit dem Flugzeug, das die topografischen Proportionen verrückt und mit dem man sich am Ende zu einem Hochgebirgsplateau hinunterbegibt, sondern mit dem modernen Zug, der Meter für Meter hinaufsteigt, von Peking bis auf 5000 Meter Höhe. 2006 ist die Bahnstrecke fertiggestellt worden.
Am ersten Tag fahren wir durch die Landschaft des Gelben Flusses, Wiege und zugleich großer Sorgenquell der chinesischen Zivilisation. Der Fluss ähnelt keinem anderen, denn er ist durch und durch braun und enthält an einigen Stellen sieben Teile Schlamm und nur drei Teile Wasser. Ich blicke auf den Strom, der über tausende von Jahren an der Erschaffung der chinesischen Zivilisation beteiligt war, der aber auch gewaltig und grausam ist und mehr Menschen in den Tod gerissen hat als alles andere in der Weltgeschichte. Allein 1887 nahm der Fluss zwischen 900 000 und zwei Millionen Menschen das Leben, im Jahr 1931 zwischen einer und 3,7 Millionen. Doch Chinas Geschichte hat sich stets um diesen Fluss gerankt, der die Grundlage für die Geburt des chinesischen Kaiserreiches Xian bildete und an dem man vor einigen Jahren einGrab mit Tausenden von Terrakottakriegern fand, die alle mit individuellen Zügen geformt sind. Der Fluss windet sich um unzählige Hügelspitzen, die von fein säuberlich aufgebauten Terrassen gesäumt sind – Zeugnisse des tausendjährigen Kampfes der Chinesen gegen die Natur des Wassers. Sie sollen die fruchtbare Erde festhalten, damit nicht noch mehr davon in den Fluss gewaschen wird, was die Überschwemmungsgefahr auf den Ebenen am Chinesischen Meer erhöhen würde.
Am zweiten Tag erreicht der Zug das Hochgebirgsplateau. Hier wird deutlich: Ich bin am Wasserturm Asiens angelangt. Stundenlang sitze ich im Zugrestaurant, verzaubert von
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