Wasser
überall auf der Welt vom »Wetter« reden, hat sich radikal verändert. Als ich Mitte der 1990er Jahre für eine Forschungsarbeit und eine Fernsehserie über die historische Rolle des Wassers umherreiste, redete so gut wie niemand über globale Erwärmung. Mittlerweile deuten die Menschen überall ungewöhnliche Wetterlagen als Ausdruck drohender Klimaveränderungen. Zwischen afrikanischen Lehmhütten in Lesotho, fast 3000 Meter über dem Meeresspiegel, begegne ich einer alten Frau, die über das schlechte Wetter der letzten Zeit redet und dieses mit »globaler Erwärmung« erklärt. An der Rezeption eines Strandhotels im mexikanischen Cancún beklagt sich ein Elvis-Imitator darüber, dass das Wetter heute aufgrund von zu viel Kohlendioxid in der Atmosphäre anders sei als früher. Und am Ufer des völlig zugrundegerichteten Bagmati-Flusses in Nepal steht ein alter Ingenieur, der sich entschieden hat, die letzten Jahre seines Lebens damit zu verbringen, den heiligsten Strom des Landes vor weiterer Verunreinigung und somit dem Sterben zu retten. Mit großen, traurigen Augen steht er da und verkündet: Der bescheidene Wasserstand des Flusses in diesem Jahr ist der globalen Erwärmung geschuldet. Überall, wohin ich komme, werden die unzähligen Meinungsumfragen bestätigt: Die neue Unsicherheit über künftige Niederschläge, Dürren, den Zustand der Gletscher und des Meeresspiegels hat sich in das kollektive Bewusstsein unserer globalisierten Welt eingebrannt.
Innerhalb weniger Jahre ist die klimawissenschaftliche Sprache in den Alltag der Menschen eingezogen und werden überall Spekulationen über die Zukunft der Erde angestellt. Kaum je zuvor in der Geschichte haben so viele Menschen ihre Ansichten über derart fundamentale Fragen wie das Klima in so kurzer Zeit geändert. Am meisten diskutiert wird die Frage, wie sich der Wasserfluss in Zukunft gestalten wird 4 . Mit Fug und Recht kann man sagen, dass die Menschheit in das Zeitalter der Wasserunsicherheit eingetreten ist.
Dieses Zeitalter wird von der Unsicherheit und dem Kampf um die Gestaltung der künftigen Wasserlandschaft geprägt sein. Stehen wir am Beginn eines Jahrhunderts der Dürren? Wird sich ein Drittel des Planeten in hundert Jahren in eine Wüste verwandelt haben? Oder leben wir in einem Jahrhundert der Überschwemmungen und der Eisschmelze? Wird der Spiegel der Weltmeere um mehrere Meter ansteigen? Und wenn ja, wann wird dies geschehen? Die Unberechenbarkeit des Wassers ist zu einem zentralen Thema der Menschheit geworden.
Zwischen meinen Reisen lese ich immer wieder die alten Flut- und Überschwemmungsmythen: das Gilgamesch-Epos über das Land zwischen Euphrat und Tigris, die Geschichte von Noahs Arche in der Bibel, den durch eine Flut verursachten Weltuntergang in buddhistischen Schilderungen und zahlreiche weitere Varianten in beinahe allen Religionen der Welt. 5 Auch mit künstlerischen Darstellungen habe ich mich beschäftigt, und hier nicht nur mit den bekannten Zeichnungen und Gemälden Leonardo da Vincis oder Michelangelos über die Sintflut. Mein Favorit ist Gustave Dorés 1865 entstandene Grafik »Die Sintflut – das Steigen der Gewässer«, ein widersprüchliches, von existenzieller Düsternis geprägtes Bild, das jedoch gleichzeitig verdeutlicht, wie die Katastrophe das Beste im Menschen hervorbringt. Die ungefähr siebzig abgebildeten Personen versuchen verzweifelt, sich vor der ansteigenden Flut zu retten. Ein Mann bemüht sich, seine Frau und sein Kind über Wasser zu halten. Direkt über ihm versucht ein Elternpaar, seine Kinder auf sicheren Grund zu bringen. Im Zentrum des Bildes siehtman die Arme einer Mutter oder eines Vaters bei dem Versuch, im Ertrinken das Kind noch für einen Moment am Leben zu halten. Die Schuldigen opfern sich, um die Unschuldigen zu retten. Diese Endzeitschilderungen sind erschütternd, erscheinen jedoch überholt, weil ihnen fehlt, worauf sich heutige Prophezeiungen stützen: die moderne Wissenschaft.
Im Dogonland in Mali, am Rande der Sahara, haben sich die Menschen über Generationen hinweg einem Leben mit wenig Wasser und stark variierenden Niederschlägen angepasst. Das Stabile am Kreislauf des Wassers ist hier das Instabile, das Normale ist die Gewissheit des Unnormalen: dass die Katastrophe kommen und die Gesellschaft treffen wird. Ein jährlich wiederkehrendes Phänomen ist das Entstehen und Verschwinden von Seen – was ein natürliches Barometer für das Klima darstellt.
Einmal pro Jahr ist
Weitere Kostenlose Bücher