Wasser
Wasser hingezogen, dichteten Verse darüber oder besangen es, wiesen ihm zentrale Rollen in der religiösen Kosmologie und in kulturellen Ritualen zu. Während ich hier sitze, gibt es wahrscheinlich rund um die Erde Millionen von Menschen, die einen Brunnen, eine Quelle, einen Fluss oder einen Wasserfall bestaunen. Liegt die Ausstrahlung des Wassers darin, dass es uns wieder und wieder mit seiner Wirkung daran erinnert, wie es Land, Meere, Luft und Menschen in einem lebendigen, endlosen Kreis vereint – mehr, als jedes andere Element auf der Erde?
Das Wasser in meinem Café Latte könnte vor einem Jahr in einem klaren Gebirgsbach geflossen sein oder im nächsten Jahr – hoffentlich gut gereinigt – in einem See wieder auftauchen, es kann ein Bestandteil des Gifts in Sokrates’ Becher oder im Bad der chinesischen Kaiser gewesen sein oder demnächst von der Fontäne inmitten des Sepentine in die Luft gewirbelt werden. 2 Auf ganz besondere Art verbindet es daher alle Menschen zu allen Zeiten. Das Wasser, das sich in ewiger Bewegung befindet, ist sowohl dasEigentum aller als auch das einer bestimmten Person, es ist ganz es selbst, weist zugleich über sich hinaus, als Voraussetzung allen Lebens. Diese Variationen über ein Thema, das genuin universell ist, machen meine Reisen so erforderlich.
Mit der Rolltreppe fahre ich später hinunter zu den Zügen der Victoria Station. Der Bahnhof ist voller Menschen, ein Straßenmusikant spielt Songs von Neil Young in einem Durchgang zwischen den Bahnsteigen, ein Bobby grüßt mich freundlich. Ein ganz gewöhnlicher Tag also, und ich bin sehr wahrscheinlich der Einzige, der den Kopf voller Gedanken an Wasser hat, während wir in die Tiefe hinunter und an Reklameplakaten für Theateraufführungen im West End vorbeifahren.
Zweifellos wäre die Atmosphäre wohl weniger angenehm, ja klaustrophobisch, wenn ich ausriefe: »Der Bahnhof ist in Gefahr, überschwemmt zu werden!« Die Menschen auf den Bahnsteigen würden vermutlich von ihrer Zeitung aufblicken und einen Moment nervös werden. Doch ich könnte sie sogleich wieder beruhigen: »Aber es gibt Pumpen, die das Wasser abhalten. Sie sehen sie nicht, aber sie retten Ihnen das Leben.« Wahrscheinlich würden mir die Leute einen misstrauischen Blick zuwerfen, sich wieder ihrer Zeitung zuwenden und mit den Schultern zucken – noch eines von diesen Originalen, die die Londoner Unterwelt bevölkern.
Doch in Victoria Station gibt es tatsächlich Pumpen, die Stunde um Stunde, Tag für Tag circa 35 Liter Wasser pro Sekunde abführen. Ein absolut erforderlicher Vorgang, der verhindert, dass Wasser durch die Wände dringt und den Untergrund überschwemmt. Während Menschen über die Bahnsteige hasten und sich Zugtüren öffnen, arbeiten diese Pumpen. Und ebenso, wenn der Zug die Station verlässt und in den nächsten Tunnel einfährt. Der Grund dafür ist nicht etwa, dass es heute in London mehr regnet als früher oder das Meer von Osten her in die Stadt dringt, sondern dass der Grundwasserspiegel unter London steigt. Die Brauereien und die Papierindustrie, die hier während und nach der industriellen Revolutionentstanden, verließen in den 1960er Jahren den Stadtkern. Dadurch hat sich der Wasserverbrauch reduziert, und infolgedessen ist das Wasser gestiegen – unerbittlich. Tatsächlich liegt Victoria Station heute unter Wasser. Sollten die Pumpen jemals aufhören zu arbeiten, würde das Wasser auf Bahnsteige und in Züge laufen und große Teile der Londoner Untergrundbahn überschwemmen. 3
Die graue und langweilige Victoria Station zeigt daher in ihrer alltäglichen Trivialität eine Wahrheit über das Wasser, die große theoretische wie praktische Konsequenzen hat: Der Mensch kann es zeitweilig kontrollieren, es in Rohre zwingen und hinter Staudämme sperren, er kann es konsumieren, doch er kann es nicht gänzlich beherrschen. Im Gegensatz zu allen anderen natürlichen Ressourcen entzieht sich Wasser letztlich immer wieder dem Zugriff des Menschen. Alle Gesellschaften sind darauf angewiesen, das Wasser zu kontrollieren. Zu jeder Zeit haben das Gesellschaften auf unterschiedliche Art und Weise getan und werden es auch weiterhin tun. Doch jede Gesellschaft muss im Laufe ihrer Geschichte feststellen, dass sich das Gleichgewicht, welches irgendwann zwischen Wasser und Gesellschaft geschaffen wurde, zu einem anderen Zeitpunkt in ein Ungleichgewicht wandelt. Der Kampf um die Beherrschung des Wassers wird somit niemals enden.
Das
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