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Wassermusik

Wassermusik

Titel: Wassermusik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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den Bug hinweg, also ist das schwache Stöckchen in seiner Hand nahezu nutzlos; Mungo krabbelt indessen fieberhaft übers Deck, zurrt Gegenstände an den Dollborden fest, murmelt vor sich hin, brüllt Kommandos, die ungehört verhallen. Martyn, der harte, unerschütterliche Zwanzigjährige, der Blutvergießer, wirkt verschreckt, und M’Keal   – Hanswurst, Trunkenbold, Wahnsinniger – hat den toten Geier weggeworfen und sich statt dessen lieber an die nächste Baldachinstrebe gebunden. Hoch oben kreisen die Geier – sicher, gelassen und geduldig wie ein Schwarm monströser Schnaken, wie Harpyien, die dort Wache halten.
    «Die Paddel!» schreit Mungo. «An die Paddel, Männer!» Die Männer ignorieren ihn, das Ufer wird immer steiler, der Niger bockt und stampft wie ein wütendes Tier. Sie halten sich fest, die Gischt spritzt, der pausenlose Krach des Wassers beim Aufschlag auf die Felsen verschlingt sie fast, der Fluß trudelt schwindelerregend dahin, Baumstümpfe und Geröllbrocken schürfen wie Klauen am Bootskiel entlang. Und jetzt – in einem rasenden, nebelhaften Schleier – macht das Lehmufer auf einmal Felswänden Platz, jähen Abhängen, von geologischer Akne überzogen, oben rauh wie Sandpapier, unten so glatt wie der gläserne Berg im Märchen. Das Kanu fliegt nach rechts, vorbei an einem Felsblock, groß wie ein Atoll, schwenkt dann links herum, verfehlt knapp zwei ausgewaschene Steinsäulen, und dort, da vorne – was ist das? Das glitzernde Licht, der Schaum und der Nebel, das Brausen – es kann alles möglichesein, von ein paar leichten Stromschnellen bis zum zweiten Niagarafall. «Festhalten!» schreit jemand, und alle beißen die Zähne zusammen, stählen sich für einen rasenden Flug in die Ewigkeit.
    Doch abermals täuscht der Niger ihre Erwartungen: weder von Stromschnellen noch Wasserfällen rührt das Brausen her. Sechshundert Meter vor ihnen scheint der Fluß gänzlich aufzuhören, abgeschnitten von einer monolithischen Felsmauer, die sich quer über den Horizont erstreckt wie ein gefällter Riese. Die Ufer weichen zurück, die Strömung wird geringfügig langsamer, und dann sehen sie die Passage – ein schmaler Kanal öffnet sich wie ein Mund in der Mitte der Mauer. Bei dem Anblick überläuft es den Entdeckungsreisenden kalt – es wird sie hineinreißen wie Ratten in eine Kloake, gegen die Felsen schleudern und alle ertränken   … aber nein, Moment mal   … der Tunnel ist ja mindestens zehn Meter hoch, fünfzehn! Ein plötzlicher Schwindel der Erregung ergreift ihn: Gerettet, wieder einmal gerettet! «Sieh mal», ruft er Ned zu, «es ist so hoch wie die Durchfahrt unter der London Bridge – das schaffen wir leicht!» Ja, natürlich. Und ist da nicht Licht am Ende der Passage?
    Tatsächlich. Wirklich hat das hohe Bogengewölbe des Tunnels, ausgewaschen im Laufe von Äonen, ohne weiteres Platz für die
Joliba –
übrigens auch für ein doppelt so großes Schiff. Doch es tritt hier noch ein Faktor hinzu, ein wichtiger, womöglich entscheidender Faktor, den der Entdeckungsreisende in Betracht zu ziehen noch keine Gelegenheit hatte. Und zwar: Was auf diese Entfernung wie ein exotisches Gewächs wirkt, das die Felswand vor ihnen verdunkelt – es könnte dichtes Gestrüpp sein oder Haare, die auf dem Rückgrat eines mesozoischen Urtiers sprießen, Algenklumpen wie Hautlappen   –, ist in Wirklichkeit etwas ganz anderes, etwas Beseeltes, Denkendes, Feindliches.
    «Aber Moment mal!» Martyn steht jetzt am Bug, späht auf den herankommenden Monolithen wie ein Ausguck im Krähennest. «Das ist doch   … da sind ja Menschen auf dem Felsen!»
    Menschen, allerdings. Mungo sieht sie, M’Keal sieht sie, und Ned – voller Verzagen: neues Leben, neue Ziele, pah! – Es läuft wie immer genau nach der alten «Rise-Regel»   –, Ned sieht sie auch. Während der Fluß sie näher bringt, wird alles klar, klar wie ein Schuldspruch, klar wie ein Todesurteil. Auf dem Felsen ist eine Armee aufmarschiert – so dicht, daß die einzelnen Krieger an manchen Stellen zu festen schwarzen Massen gerinnen, wie Teerklumpen   –, eine Armee so groß wie Napoleons oder die des Zaren, ein endloser Strom, als wäre halb London in schwarzer Bemalung mit Lanzen und Bogen und gehämmerten Messern angetreten. Die Afrikaner wußten die ganze Zeit, daß dieser Moment unweigerlich kommen muß, die ganze Zeit haben sie die Enttäuschungen geschluckt, ihre zertrampelten Zehen gepflegt, ihren schwer verletzten

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