Wassermusik
starren Flügeln und den scharfen Schnäbeln. Sogar der besoffene M’Keal, der nach dem Verlust seines Ohrs und vor Hitze, Fieber, Monotonie und allem Möglichen immer noch halb verrückt ist, steht wie angewurzelt da, beglotzt den Himmel wie ein Hinterwäldler ein Zirkuszelt. Die Schatten huschen über ihnen, verfinstern die Sonne. Ned ist nicht wohl dabei. Was immer das bedeutet, es kann nichts Gutes sein. Er knirscht mit den Zähnen und spuckt angeekelt in den Fluß. Seit Yaour hatte sich alles wieder ganz rosig angelassen. Das Wasser bot keine Hindernisse, niemand lauerte am Ufer, und der Strom trägt sie, soweit er das aus dem Beobachten von Sonne, Mond und Sternen feststellen kann, geradewegs nach Süden. Es ist ein Jammer, daß nun so etwas passieren muß und alles verdirbt. Echt ein Jammer.
Die letzten drei Wochen etwa waren wirklich friedlich und wohltuend gewesen, das stetige Plätschern des Flusses wie der Puls des Mutterschoßes, zeitlos, einlullend, beruhigend. Widersinnigerweise wünscht er sich mittlerweile, es möge immer so weitergehen. London. Was ist ihm denn schon London? Ein Ort, an dem er gehetzt, verfolgt, mißhandelt und zum Tode verurteilt wurde. Er hat dort keine Familie, keine Freunde, nichts als Feinde – lauter Ospreys, Mendozas, Banks. Billy ist tot, Fanny eine Erinnerung. Was soll’s? Auch wenn die übrigen von nichts anderem reden, verliert Ned langsam jedes Interesse an der Heimkehr – warum soll er sich was vormachen? Medaillen, Belohnungen: alles ein Witz. Es wird das alte Lied sein. Schmerz und Leid, Verlust und Entbehrung. Würde der große, berühmte Mungo Park ihn auf den Straßen Londons denn auch nur eines Blickes würdigen?
Heimatlos, vaterlos, ohne Aussicht und Hoffnung, sieht Ned inzwischen diesen trostlosen, stinkenden, bleischweren Kontinent in einem neuen Licht, als einen Ort, wo Dinge anfangen, nicht nur enden. Alles, was er in den letzten zwei Jahren durchgemacht hat, all die Hitze, all den Gestank, all die Krankheiten, die ganze Not und Fremdheit – es muß ein Zweck darin liegen, ein verborgener Sinn, ein Bindeglied seines Lebens. Schon überlegt er, vielleicht gar nicht nach London zurückzukehren, wenn sie die Küste erreichen. Er könnte als Händler umherziehen, oder sich ein wenig ausruhen und sich dann wieder ins Landesinnere vorkämpfen, seine eigenen Entdeckungen machen, nach dem suchen, was ihm bisher zu finden erspart blieb …
Natürlich ist das Ganze nichts als Wunschdenken, eine Träumerei, mystisch und kaum faßlich. Das Wichtigste – unter dem Strich – ist immer noch das Überleben. Seinen Posten an der Ruderpinne gibt er nicht auf, und mit dem Entdeckungsreisenden ringt er weiter um die Macht über sein Schicksal, obwohl der Kampf noch ebenso verstecktund subtil geführt wird wie am Anfang, von jenem sengendheißen Tag an, als sich über einem offenen Grab auf Goree sein Weg erstmals mit dem des blonden Helden kreuzte. Nein, er hat keinen Zentimeter preisgegeben, und doch ist die Streitfrage nun fast begraben. Sind es die Sonne, die Nachwehen des Fiebers, die einschläfernde Gemütsruhe der letzten drei Wochen – jedenfalls ist Ned etwas milder zu seinem Arbeitgeber und Reisegefährten geworden. Er ist jetzt sicher, daß er überleben wird, daß das Schlimmste vorüber ist, daß dieser wahnwitzige Esel von Entdeckungsreisendem nicht mehr allzu viel tun kann, was ihn gefährden könnte – und diese Gewißheit erweicht seine Abwehrhaltung im Verhältnis zu dem Mann. Außerdem verläßt sich Mungo so bedingungslos auf ihn, daß er ihm inzwischen alles anvertraut, genau wie Ned es sich damals auf Goree erträumt hat; es mag wenig wert sein, aber er ist wirklich Mungos rechte Hand geworden – hat Martyn, Johnson, Amadi und alle anderen ausgestochen und ist dem Großen Weißen Helden nun ebenso nahe wie vorher dieser Knirps von Schwager.
Sie haben sich oft unterhalten, von Mann zu Mann. In stillen Nächten, bei Nebel auf dem Wasser, mit einundvierzig Toten und dem Äquatormond auf ihren Schultern wie eine unnachgiebige Last. Mungo hat ihm sein Herz ausgeschüttet, von seiner Ehe, den Kindern, dem Trennungsschmerz, seinem Ehrgeiz erzählt. Wie im Selbstgespräch redete er einmal stundenlang, und dann wandte er sich aus heiterem Himmel plötzlich an Ned und fragte ihn, wie er seine Fingerglieder verloren oder die Narbe am Hals bekommen habe – «Weißt du», sagte er, «es sieht fast aus wie die Spur eines Stricks.» Mit offener,
Weitere Kostenlose Bücher