Weg mit den Pillen
Enthusiasmus und Empathie beginnen, im Laufe der Zeit aber beides verlieren. 132 Hiesigen Ärzten, so vermute ich, geht es nicht anders. Dies ist systembedingt und liegt aus meiner Sicht daran, dass falsche Bilder transportiert werden (der Mensch als Maschine), dass falsche Handlungsanweisungen gelehrt werden (der Arzt als Biomechaniker) und dass damit ein falsches System erzeugt wird (die Honorierung von Interventionen). Die einzigen Profiteure sind die Pharmaindustrie und das aktuelle Gesundheitssystem – nicht einmal mehr die Ärzte. 133
Wir müssen also einen Weg finden, unser System von Grund auf umzugestalten. Es gibt auch schon eine ganze Reihe von Modellen, die vormachen, wie dies aussehen könnte. In der Schweiz gibt es Hausarztmodelle, die relativ erfolgreich sind, obwohl sie dem konventionellen Denkmuster noch immer stark verhaftet sind. Hier gibt es gemeinschaftliche Hausarztpraxen, die mit den Versicherungen
ein globales Budget aushandeln. Mit diesem Budget wird eine bestimmte Zahl von Patienten behandelt. Die Ärzte nehmen innerhalb dieses Modells alle medizinisch notwendigen Versorgungen vor und bezahlen sie auch. Wenn ein Patient eine teure Operation benötigt, dann wird sie aus dem Budget bestritten. Die Ärzte zahlen sich selbst ein Honorar aus. Dieses ist natürlich ergebnisabhängig: Wenn sie am Ende des Jahres ihr Budget nicht aufgebraucht haben, können sie sich eine Zulage gönnen. Die Honorierung, die sie sich selbst geben, ist nicht schlechter als das, was unter Normalbedingungen verdient wird, und für die Versicherung ist dieses Modell zwischen 20 und 30 Prozent günstiger. 134
Was hier geschieht, ist ein erster Schritt in die richtige Richtung. Es werden keine Einzelleistungen honoriert, sondern ein Gesamtpaket, in dem Leistungen eingebettet sind, die aber nicht der Grund der Honorierung sind. Der Grund der Honorierung ist eine Gesamtleistung : die adäquate medizinische Versorgung von Patienten. Ob dazu eine medizinische Intervention nötig ist oder nicht, kann die Versicherung getrost dem Arzt überlassen. Er entscheidet und trägt auch die Verantwortung. Das führt zu einer Reduktion der Verordnungen bei gleicher medizinischer Qualität und gleicher oder gar größerer Zufriedenheit der Patienten.
Wie sieht es im Moment aus? Ein Riesenüberwachungsapparat in den Krankenkassen, beim Medizinischen Dienst der Kassen und bei den Selbstverwaltungen der Ärzte überprüft, ob die Ärzte auch nichts Falsches abgerechnet haben, nicht zu viel und keine Maßnahmen, die gar nicht erstattungsfähig sind. Einsprüche müssen bearbeitet werden. Patienten reklamieren. All das muss beantwortet und begutachtet werden. Ein Riesenaufwand an Bürokratie und Kontrollprozeduren verschlingt Unsummen Geldes, die man sehr leicht und sinnvoll anders investieren könnte: in die Finanzierung von Zeit.
In dem Moment, in dem man alle Agierenden im System als Verantwortliche behandelt, einfach ihren Zeitaufwand als solchen honoriert und es ihnen komplett freistellt, wie behandelt wird (denn es werden ja keine einzelnen Interventionen mehr bezahlt, daher
muss auch nicht mehr geprüft werden, ob die medizinischen Maßnahmen gut und richtig waren), wird sich das Problem der Überverordnung, Falschverordnung, Falschabrechnung komplett von allein lösen. Denn jeder hat nur eine begrenzte und gleiche Menge Zeit zur Verfügung und kann keine 30 Stunden Therapie am Tag abrechnen. Zu überlegen ist, ob man die Zeit unterschiedlicher Akteure im System unterschiedlich vergütet. Und man kann auch noch überlegen – so wie das bei den Hausarztmodellen der Fall ist –, ob man ein Zusatzbudget für notwendige therapeutische Maßnahmen mit ins Paket nimmt oder besonders kostenintensive, unerwartete und ungeplante Interventionen, wie etwa Notfalleinsätze, Notoperationen, kostenintensive Abklärungen außerhalb des Budgets honoriert. Aber das sind Details, die man durch entsprechende Begleitforschung leicht optimieren kann.
Dann wird es völlig unerheblich sein, was der Hausarzt macht, um Frau Schulze ihren Schlaf zurückzugeben. Ob er sie hypnotisiert und dafür eine Stunde braucht, ob er eine Blitzhypnose anwendet, die fünf Minuten dauert, ob er ihr Schlaftabletten verschreibt, ob er ihr ein homöopathisches Kügelchen verordnet oder zaubert – all das ist seiner ärztlichen Kompetenz überlassen und er wird dafür die volle ärztliche und auch budgetäre Verantwortung übernehmen. Das wird er dann tun, wenn seine Zeit
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