Weg mit den Pillen
Rehabilitation
Die medizinische Versorgung wird sich vielleicht nicht mehr nur in die zwei Bereiche Regelversorgung und Rehabilitation aufgliedern. Sondern sie wird vermutlich dreigleisig sein: Eine Akutversorgung, sowohl in ärztlichen Praxen als auch in Kliniken, ist für die wirklich akuten Notfälle da. Eine gemeindebasierte Gesundheitsberatung hilft den Menschen dabei, mit allen möglichen Problemen fertig zu werden, die keine unmittelbaren ärztlichen Eingriffe benötigen. Sie hilft den Gesunden, die Fragen haben, weiter und unterstützt sie in ihrem Lebensprozess. So können sie Entscheidungen treffen, die lebens- und gesundheitsförderlich sind, damit sie gar nicht erst krank werden.
Etwa 70 bis 80 Prozent aller Patienten, die derzeit zum Allgemeinarzt gehen, haben funktionelle Störungen. Das heißt, sie sind nicht wirklich in einem medizinisch-akuten Sinne krank und benötigen auch keine medizinischen Eingriffe. Sie werden derzeit aber dennoch vor allem medizinisch versorgt, und zwar mit Rezepten und Prozeduren, die vollkommen überflüssig sind. Sie kommen, weil es Probleme in ihrem Leben gibt. Sie haben Rückenschmerzen, weil sie Krach im Beruf oder zu Hause haben. Sie können nicht mehr schlafen, weil sie ihr Freund oder ihre Freundin verlassen hat. Derlei Dinge. Zum einen können wir davon ausgehen, dass diese Gruppe von Menschen in einer Kultur, in der alle für sich selbst und ihre Gesundheit Verantwortung übernehmen, kleiner wird, weil Menschen bewusster mit sich und ihren Ressourcen umzugehen lernen. Zum anderen benötigen diese Menschen vor allem eines: Zeit.
Eine solche Gesundheitsberatungsfunktion könnten Ärzte oder Psychotherapeuten übernehmen, aber durchaus auch eine neue Art von Gesundheitsberatern. Ihre Aufgabe wäre es vor allem, das weitere Umfeld eines Menschen in den Blick zu nehmen, mit ausreichender diagnostischer Sachkenntnis zu sehen, bei wem möglicherweise ein tiefgreifenderes Problem im Hintergrund lauert,
und diese Menschen zu einer guten ärztlichen Abklärung zu schicken. Bei der großen Mehrheit, die eine solche Abklärung höchstwahrscheinlich nicht brauchen wird, hieße die Devise, ausreichend Zeit zu investieren, um Lebenshilfen und Ideen anzubieten, wie die Menschen in einen positiven Zirkel geraten können, aus dem heraus ihnen wieder Gesundheit, Wohlbefinden und Lebensfreude erwächst.
Möglicherweise wird der Allgemeinarzt der Zukunft dieses Feld der Gesundheitsberatung besetzen und wandelt sich so vom Arzt, der primär diagnostiziert und Rezepte verteilt, zum Lebensbegleiter, der vor allem Zeit investiert, Lebensläufe begleitet und nur im Ernst- und Spezialfall diagnostisch tätig wird und Pillen verschreibt.
Der akute Sektor wird vermutlich relativ ähnlich wie jetzt funktionieren: Spezialärzte für spezielle Probleme, Krankenhäuser für akut und schwerer Kranke, für Unfallopfer und für Menschen, die eine Operation benötigen, wird es natürlich nach wie vor geben. Mit einem Unterschied: Sie werden vielleicht weniger Menschen zu behandeln haben, weil es bei vielen erst gar nicht so weit kommt, dass sie ins Krankenhaus müssen. Natürlich wird es immer noch Unfallopfer geben, vielleicht sogar etwas mehr: Gesunde sind aktiver, und wer aktiver ist, läuft zum Beispiel schneller mal Gefahr, beim Radfahren dumm zu stürzen.
Auch der Rehabilitationssektor muss nicht um seine Existenz bangen, aber vielleicht um seine Größe. Denn auch hier gilt: Wenn Menschen sich selbstverantwortlich darum kümmern, gar nicht erst krank zu werden, dann werden weniger Menschen mit Depressionen, mit berufsbedingter chronischer Müdigkeit und Rückenschmerzen, mit ernährungsbedingten Stoffwechselstörungen und Diabetes in den Rehakliniken landen.
Wir würden also insgesamt eine klare Umverteilung der Aufgaben erleben, weg von den kosten- und interventionsintensiven Eingriffen, hin zu eher sanften Maßnahmen und zeitintensiver Begleitung.
Ein neues Bild vom Organismus
Der Schlüssel zu diesem Wandel ist der Wandel des Verständnisses davon, was der Mensch, was der Organismus, was Leben ist und wie wir in diesem Leben verankert sind. Der Schlüssel ist aus meiner Sicht, dass sich das öffentliche und professionelle Bewusstsein dahingehend verändert, dass es aufhört, den Menschen als Maschine und nur als Maschine zu sehen, dessen Probleme »mechanische Reparaturen« nötig machen. Dass uns diese Metapher der Biochemie und der Grundlagenforschung noch lange Zeit gute Dienste
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