Weg mit den Pillen
man dann beispielsweise überlegen, wenn Herr Meier nun doch mal mit Rückenschmerzen käme, in welchem seiner Lebensbereiche sich derzeit Verwerfungen eingestellt hätten. Entsprechend würde sich dann der Osteopath, der Physiotherapeut, ein Yoga- und Bewegungslehrer oder gar ein Psychotherapeut um das Problem kümmern.
Das automatische Verschreiben von Pillen wird ganz aus der Mode gekommen sein. Denn die Menschen, die sich nicht mehr als Patienten verstehen und auch nicht mehr als solche ins Gesundheitszentrum gehen, werden verstanden haben, dass nur in den seltensten Fällen solche Pillen notwendig sind. Sie werden sie auch nicht als Zeichen der Zuwendung verlangen. Sie erhalten ihre Zuwendung anderweitig. Das heißt nicht, dass es keine Rezepte und keine Medikamente mehr geben wird, das sicher nicht. Denn man wird nach wie vor bei ernsthaften Infekten Antibiotika benötigen, bei schweren Kopfschmerzen Schmerzmittel oder bei extremen Schlafstörungen zunächst ein Schlafmittel. Aber die Anwendungsart und -häufigkeit werden sich drastisch verändern. Denn wenn die Handelnden in diesem neuen Gesundheitserhaltungssystem die Menschen, um die es geht, gut kennen, dann werden sie im Idealfall
wichtige Zusammenhänge sofort erkennen. Sie werden ahnen, dass die Schlafstörung von Frau Schulze mit ihrer Aufregung zu tun hat, weil ihre Tochter jetzt bald heiratet, in eine ferne Stadt ziehen wird und dann weniger bei ihr vorbeischauen kann. Eine kluge und gut geschulte Gesundheitsberaterin wird wissen, dass sie zunächst Zeit investieren und Frau Schulzes Ängste und Befürchtungen kennenlernen muss – ja dass sie zunächst einmal Frau Schulze selbst helfen muss, diese Ängste näher zu betrachten. Dann kann sie in einem weiteren Schritt Frau Schulze helfen, die aufkeimende Trauer um den empfundenen Verlust der Tochter zu verarbeiten und neue Handlungsmöglichkeiten zu finden. Vielleicht ermuntert sie Frau Schulze, neue Kontakte zu knüpfen. Oder sie ermutigt sie, wieder mehr zu reisen, manchmal die Tochter zu besuchen, manchmal weit entfernt lebende Freunde. Auf diese Weise würde die Beraterin Frau Schulze helfen, die positiven Seiten der neuen Lebenssituation zu entdecken. Schließlich wird sie auch bemerken, dass Frau Schulze schon immer ein recht besorgter und nervöser Mensch war. Sie kann ihr dann beispielsweise vorschlagen, in die abendliche Entspannungs-, Yoga- und Meditationsgruppe zu kommen, damit sie lernt, mit ihrer Übererregung fertig zu werden. Wo früher eine Schlaftablette nach zwei Minuten Konsultation zwar das Symptom, aber nicht das Problem gelöst hat, wird nun plötzlich ein neuer Lebensentwurf geschaffen. Und zwar genau deswegen, weil die Agierenden im System aufgehört haben, vorschnell zum Rezeptblock zu greifen.
Die Ressource Zeit
Sie werden gemerkt haben: Der Schlüssel für dieses Szenario ist unser Umgang mit den Ressourcen, genauer gesagt der Umgang mit der Ressource Zeit. Was im Moment geschieht, ist eine fatale Verschleuderung von anderen Ressourcen und von Geld. Wir pumpen enorme Summen in die Alimentierung des pharmazeutischen Sektors. Deswegen haben wir kein Geld, Zeit zu honorieren. Wenn wir einmal anfangen, den Spieß umzudrehen und die Zeit zu honorieren,
die Menschen für andere aufwenden, dann löst sich das Problem von allein. Dann wird nämlich weniger Geld für die Bereitstellung von Medikamenten benötigt. Keine Sorge, die Pharmaindustrie wird nicht verhungern. Der Akutsektor wird noch genügend Medikamente benötigen. Die Pharmabranche wird vielleicht schrumpfen müssen. Das ist in der Geschichte immer schon so gewesen: Irgendwann sind die Erzeuger von Pferdekutschen Pleite gegangen, oder sie haben eben auf die Erzeugung von Autos umgesattelt.
Der Schlüssel, sagte ich, ist die Honorierung von Zeit und das Verständnis dafür, dass dies die wichtigste therapeutische Ressource ist. Im Moment werden nur Interventionen und Verschreibungen wirklich bezahlt. Zeitaufwand wird nur am Rande erstattet. Das führt nach den Marktgesetzen dazu, dass das, was bezahlt wird, auch angeboten wird. Dieses System macht also krank. Es macht die Patienten kranker, als sie sind, und es macht letztlich auch die Ärzte krank. Denn sie müssen sich von ihrer ureigenen Berufung, nämlich heilend für Menschen da zu sein, abwenden. Dieser Prozess beginnt schon in der Ausbildung. Eine viel beachtete Untersuchung in den USA hat gezeigt, dass Medizinstudenten ihre medizinische Ausbildung mit viel
Weitere Kostenlose Bücher