Weg mit den Pillen
leisten wird, steht außer Frage. Es ist aber auch sonnenklar, dass sie in der konkreten Versorgung schädlich ist und abgelöst werden muss. Stattdessen benötigen wir das Bild eines sich selbst steuernden, aktiven, in weite Zusammenhänge eingebetteten komplexen Systems, das all das, was es zum Leben braucht, durch sein Verhalten und durch innere Prozesse selbst erzeugen kann. Krankheit ist kein mechanisches Problem, das man durch Pillen oder chirurgische Eingriffe wieder in den Griff bekommt, so wie ein Mechaniker Vergaser auswechselt. Krankheit ist eine Störung im Lebensprozess, die ich mit Meyer-Abich als Entfremdung verstanden habe und die immer verschiedene Schichten unseres Daseins betrifft.
Diese neue Sicht wird vielleicht am besten mit mehreren parallelen Bildwelten arbeiten können. Denn in bestimmten Fällen ist das Bild vom Körper als Maschine ganz nützlich: Der akute medizinische Sektor wird daher vielleicht auch in Zukunft danach denken und handeln, und das ist ganz in Ordnung so. Aber der gesundheitserhaltende und lebensbegleitende Sektor muss diese Metapher verbannen und eine neue finden. Die Vorschläge in diesem Buch können dabei die Richtung angeben: Wir müssen den Menschen als ein aktives, handelndes, für sein Leben Verantwortung übernehmendes Wesen verstehen. Und wenn er keine Verantwortung übernehmen möchte, weil es bequemer ist, die anderen »machen zu lassen«, dann müssen wir ihn dahingehend erziehen, dass er diese Verantwortung nicht mehr scheut. Denn genauso wie Krankheit
die konstruktive Leistung eines aktiven, komplexen Systems ist, so kann auch Gesundheit nur eine konstruktive Leistung dieses Systems sein. Und so wird der Gesundheitserhaltungssektor dazu dienen, Menschen dabei zu unterstützen, ihre Gesundheit zu erhalten und dort, wo sie bedroht ist, helfen die Balance wiederzufinden.
Der Gesundheitserhaltungssektor
Der akute und der Reha-Sektor werden also vermutlich relativ ähnlich funktionieren wie bisher auch. Beide Bereiche werden allerdings kleiner werden, spezialisiertere Aufgaben übernehmen und an Bedeutung einbüßen. Wer heute zu den medizinischen Normalversorgern gehört – Allgemeinärzte, Internisten, Physiotherapeuten, Masseure und die ganze Palette der komplementärmedizinischen Dienstleister –, würde in meiner Vision einem neu zu gestaltenden Gesundheitserhaltungssektor angehören. Dieser Sektor hätte die eine Aufgabe, eigenverantwortliche Menschen durch ihr Leben zu begleiten und ihnen dabei zu helfen, gesund zu bleiben. Dieser Sektor wäre vermutlich der größte im System und würde vielleicht sogar zwei Drittel der gesamten Kapazität ausmachen. Dort, wo Menschen ihre Verantwortung nicht wahrnehmen wollen, hätte er eine erzieherische Aufgabe. Es wäre durchaus auch denkbar, dass es in diesem Sektor noch neue Untergliederungen gibt und dass neue Berufe hier ihren Platz finden, die es noch nicht in dieser Weise gibt: Gesundheitsberater, die eine sehr gute medizinische und psychologische Ausbildung haben und als erste Anlaufstelle dienen können. Mobile Gemeinde- und Gesundheitsberater, die Familien besuchen und wissen, wo in den Gemeinden Brennpunkte sind und wo Hilfe nötig ist. Hier könnte sich das Gesundheitssystem mit dem Sozialsystem verbünden, um rechtzeitig zu erkennen, an welchen Stellen interveniert werden muss, damit eine Krankheit gar nicht erst entsteht.
Wie gesagt: Dieser Sektor würde vermutlich typischerweise von Ärzten bedient werden, die im wahrsten Sinne des Wortes Haus-und Familienärzte sind. Sie begleiten Menschen von der Wiege bis
zu Bahre durchs Leben, aber in Zukunft nicht (oder noch weniger) mit dem Blick eines Biomechanikers, sondern mit dem Blick eines Arztes, der verstanden hat, dass er immer nur stützen, unterstützen und begleiten muss, weil der Organismus das Wesentliche ohnedies selbst leistet. Entsprechend müssen seine Kenntnisse ausgerichtet sein.
Vielleicht wäre ein solcher Hausarzt eng vernetzt mit einem multidisziplinären Praxisteam, in dem Psychologen, Sozialarbeiter, Physiotherapeuten, Osteopathen, Homöopathen, vielleicht sogar Meditations- und Yogalehrer mitarbeiten. So könnte ein regelrechtes Gesundheitserhaltungszentrum entstehen. Das Selbstverständnis eines solchen Zentrums wäre es, Gesunden dabei zu helfen gesund zu bleiben und Kranke – soweit sie aus ihrem Gleichgewicht gekommen sind – dahingehend zu unterstützen, dass sie ihr Gleichgewicht wiederfinden. In einem solchen Zentrum würde
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