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Wege im Sand

Wege im Sand

Titel: Wege im Sand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luanne Rice
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einst aus tiefster Seele gewünscht hatte. Als sie nun in Linus’ attraktives kantiges Gesicht blickte, in seine verhangenen haselnussbraunen Augen, spürte sie die erste Regung lang verschütteter Gefühle.
    Nun ließ sie, in der dunklen Stille ihres Hauses in Hubbard’s Point, den Pinsel über die raue Oberfläche des Papiers gleiten. Der kleine Zaunkönig war auf sich allein gestellt.
    Stevie wischte sich über die Stirn. Die Begegnung mit Nell hatte sie aufgewühlt. Wieder dachte sie an Emma. An das Trio – Stevie, Madeleine und Emma.
    Hubbard’s Point war durch ein Eisenbahnviadukt, das über eine Straße führte, vom Rest Connecticuts getrennt. Wenn man die schmale Durchfahrt passierte, hatte man den Eindruck, eine verzauberte Welt zu betreten, wo Freundinnen so eng miteinander verbunden waren wie leibliche Schwestern. Drei Jahre lang hatten sie, während sie sich von jungen Mädchen in junge Frauen verwandelten, ihre Handtücher in der Sonne ausgebreitet, Wärme und Verheißungen in sich aufgesaugt und geglaubt, das Leben und ihre Freundschaft würden ewig währen. Sie hatten sich gegenseitig gelobt, gemeinsam alt zu werden, wie die lederhäutigen alten Damen, die ihre Liegestühle im Kreis aufstellten, um zu nähen, und ihre großmütterlich wirkenden Halsketten auch dann trugen, wenn sie ins Wasser gingen.
    Wie leicht die Menschen etwas aufgeben, dachte Stevie, während sie malte. Warum habe ich mir nicht mehr Mühe gegeben, den Kontakt aufrechtzuerhalten? Während sie die Schwingen des kleinen Zaunkönigs mit Federn versah, dachte sie an all die Erfahrungen in ihrem Leben, die sie ohne Wissen der Beachgirls gesammelt hatte. Sie erinnerte sich, wie die beiden sie von ihrem ersten Liebeskummer geheilt hatten – mit einem Abstecher zum Paradise Ice Cream, wo sie Eisbecher mit Früchten aßen und die Maraschinokirschen in einem feierlichen Ritual im Sand vergruben.
    Diese Zeremonie wäre ihr seither viele Male zustatten gekommen. Sie legte den Pinsel und die Zaunkönig-Skizzen für diesen Abend beiseite. Dann öffnete sie die Küchentür, weil sie Tilly eine Mäusejagd versprochen hatte, und ließ die Katze in die Nacht hinauslaufen. Barfuß schlenderte sie durch den Garten, kletterte auf den Felsen, der dem Strand gegenüberlag. Sie hörte den Schlag der Wellen und sah, wie die gezackten weißen Kämme die tintige Schwärze durchbrachen.
    Eine nach der anderen, berührten die kleinen Wellen des Long Island Sound den Strand in gleichförmigem Rhythmus. Stevie hielt den Atem an, um ihren Herzschlag den Wellen anzupassen. Tilly bewegte sich raschelnd durch das Unterholz. Eine fast zahnlose Katze, auf der Suche nach Beute. Der Gedanke an eine derart unerschütterliche Hoffnung angesichts der rauen dentalen Wirklichkeit entlockte Stevie ein Lächeln.
    »Los, Tilly!«, feuerte Stevie sie an, noch immer zum Strand hinunterspähend, wo sie vor langer Zeit viele glückliche Tage mit ihren Freundinnen verbracht hatte. Dann sah sie zu den Sternen empor, fand einen für Madeleine und einen für Emma. »Und einen für Nell«, sagte Stevie, den Blick auf einen hellen Stern gerichtet, der weißblau in der endlosen Schwärze der Nacht funkelte.

    Ein warmer Wind wehte durch die Fliegengitter, und das Geräusch der Grillen und Nachtvögel glich einem Wiegenlied. Nell lag mit Bauchweh im Bett, weil sie zu viel Hummer gegessen hatte, und versuchte, sich von den Lauten der Natur in den Schlaf lullen zu lassen. Es funktionierte nicht.
    »Ohhh!«, stöhnte sie.
    »Schlaf endlich, Nell!«, drang die Stimme ihres Vaters herüber.
    »Ich geb mir ja Mühe!«
    »Gib dir mehr Mühe.«
    Sie streckte ihre Zunge heraus. Was für eine Antwort war denn das? Gib dir mehr Mühe! Väter hatten ein Brett vorm Kopf. Wussten sie nicht, dass der Schlaf einem umso schneller entglitt, je mehr man ihn festzuhalten versuchte? Ihre Mutter hätte gesagt … Nell kniff die Augen zusammen, versuchte sich zu besinnen, was ihre Mutter gesagt hätte.
    Die Erinnerung stellte sich nicht ein. Früher war es Nell immer gelungen, die Lücken mit den Worten ihrer Mutter zu füllen, aber plötzlich war es damit aus und vorbei. Nichts ging mehr! Sie versuchte, die Stimme ihrer Mutter heraufzubeschwören, doch das klappte genauso wenig!
    »Ohhh!«, rief sie lauter. Plötzlich wurden die Bauchschmerzen schlimmer. »Daddy!«
    Er betrat das kleine Zimmer. Sie sah seine hoch aufragende Silhouette auf der Türschwelle. Dann nahm er auf ihrer Bettkante Platz. Das

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