Wege im Sand
Maddie nach.
Emmas Herz war schwer. Natürlich würde Stevie wieder eine verblüffende, völlig unerwartete Antwort geben. Das tat sie immer. Sie war sehr eigenwillig, ruderte noch vor Sonnenaufgang zu den Vogelinseln hinaus, fuhr abends mit dem Rad in die Marsch, um dem Ziegenmelker zu lauschen, oder war einen ganzen Tag lang spurlos verschwunden, und wenn Emma und Maddie – ihre Beachgirl-Kumpane – an ihre Tür klopften, eröffnete ihr Vater ihnen, dass sie auf dem Friedhof war, um die Blumen auf dem Grab ihrer Mutter zu zeichnen.
Und wenn Stevie wieder aus der Versenkung auftauchte, pflegte sie Geschichten über ihren Verbleib zu erzählen. Sie war ein Mensch voller Widersprüche – eine eingefleischte Einzelgängerin, aber mit einem starken Bedürfnis nach Nähe zu den Menschen, die sie am meisten liebte.
Sie erzählte – in solchen detaillierten Einzelheiten, dass Emma und Maddie das Gefühl hatten, dabei gewesen zu sein – von den Cottages, an denen sie mit ihrem Rad vorübergefahren war, ausgebleicht vom Salz und mit bonbonfarbenen Fensterläden, auf dem Weg zu dem kleinen Friedhof, der sich zwischen die vom Wind geformten Zedern und Eichen schmiegte; von den scharlachroten Klettertrompeten, die sich am Sockel des Engels über dem Grab emporrankten, in dem ihre heiß geliebte Mutter ihre letzte Ruhe gefunden hatte …
Wie die roten Blüten die Kolibris anzogen, winzige Vögel mit smaragdgrünem Gefieder, die Stevie über alles liebte, weil sie ihrer Mutter Gesellschaft leisteten.
Solche Dinge fielen Stevie ein – aus heiterem Himmel! Die Geschichte entfaltete sich ganz allmählich, wobei Stevies Worte ebenso einprägsame Bilder heraufbeschworen wie ihre Zeichnungen – beinahe wie die von Emma geliebten, hübsch illustrierten Kinderbücher, mit denen sie aufgewachsen war. »Du wirst noch mal berühmt werden«, hatte Emma prophezeit. »Vergiss Maddie und mich nicht, wenn du jede Menge Bücher geschrieben hast, okay?«
»Nie im Leben«, versprach Stevie.
Emma bewunderte Stevie wegen ihrer Begabung, aber sie war auch – sie gab es nur ungern zu – ein wenig neidisch. Wie mochte es sein, die Welt mit Stevies Augen zu sehen? Die Natur und die Menschen so aufrichtig zu lieben, dass ihr nie einfallen würde, eine Gegenleistung von ihnen zu erwarten. Emma wusste, dass Stevie schrecklich verletzlich war – sie hatte nah am Wasser gebaut.
Vermutlich war das die Kehrseite der Medaille, dachte Emma – wenn jemand so kreativ und empfindsam war wie Stevie, musste man sein Herz weit öffnen und alles an sich heranlassen. Manchmal kam ihr Stevie wie Schneeweißchen vor, und sie selbst war Rosenrot … und Madeleine war die nette, normale, unbeschwerte Freundin mit einem wirklich heißen Typen als Bruder.
»Sag schon, was wünschst du dir?«, fragte Emma nun.
»Nur dass dieser Augenblick ewig währen möge«, erwiderte Stevie.
Kaum zu glauben, nach dem ganzen Hin und Her etwas so Einfaches. Emma seufzte erleichtert auf. Sie hatte damit gerechnet, dass Stevie etwas Tiefgründiges über Vögel und Menschen, Sommer und Liebe, Freunde und den Weg durchs Leben zum Besten gab. Zu ihrer Überraschung war es Madeleine, die philosophisch wurde.
»Das ist ein historischer Augenblick«, sagte Maddie. »Unsere Verfassung besteht seit zweihundert Jahren. Wir sind Teil der Geschichte.«
»Und wir sind sechzehn und sind bereit, geküsst zu werden … geküsst, geküsst und nochmals geküsst.«
»Die Beachgirls von 1976«, sagte Stevie.
»Schreib ein Buch über unseren Sommer«, schlug Maddie vor. »Es wird mit Sicherheit ein Klassiker und die Leute werden es ihren Sprösslingen noch in den nächsten zweihundert Jahren vorlesen, genau wie wir unseren eigenen Kindern.«
Emma erschauerte bei diesen Worten – der Gedanke, dass Stevie Bücher schreiben und berühmt werden könnte, behagte ihr nicht. Dann würde sie sich überrundet und zweitrangig fühlen.
»Kommt, worauf wartet wir noch?«, sagte Emma, nur um das Thema zu wechseln.
Die Hände verschränkt, liefen die drei ins Wasser, alle zugleich, ohne innezuhalten oder vor der Kälte zurückzuzucken. Sie hielten einander fest, als sie mit einem Kopfsprung in die sich überschlagende silberne Welle eintauchten. Als sie wieder an die Oberfläche kamen, um Luft zu holen, bildeten sie einen Kreis – genau wie denjenigen, den Emma in den Sand gezeichnet hatte. Mit kräftigen Beinen traten sie Wasser, ließen sich treiben.
Wieder einmal hatte das Meer
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