Weiberregiment
Polly schnitt sich vor dem Spiegel das Haar ab und bekam dabei ein schlechtes Gewissen, weil sie gar kein schlechtes Gewissen hatte. Eigentlich war das Haar ihre krönende Pracht, und alle nannten es wundervoll, aber bei der Arbeit trug sie es normalerweise in einem Netz. Sie hatte immer gedacht, dass es an sie verschwendet war. Nichtsdestotrotz achtete sie darauf, dass die langen goldenen Locken auf das kleine Tuch fielen, das sie aufnehmen sollte.
Hätte sie zu diesem Zeitpunkt irgendwelche starken Gefühle zugegeben, dann den Ärger darüber, dass ein Haarschnitt genügte, um sie als jungen Mann durchgehen zu lassen. Sie brauchte nicht einmal ihren Busen flach zu binden, was in solchen Fällen üblich war, wie sie gehört hatte. Sie verdankte es der Natur, dass es in dieser Hinsicht kaum Probleme gab.
Die Schere erzielte eine … unregelmäßige Wirkung, aber der Haarschnitt war nicht schlechter als der vieler Männer. Er würde seinen Zweck erfüllen. Polly fühlte Kühle im Nacken, aber das lag nur zum Teil am fehlenden Haar. Es lag auch an dem Blick.
Die Herzogin beobachtete sie von ihrem Platz über dem Bett.
Es war kein besonders guter Holzschnitt, und er war mit der Hand, größtenteils in blau und rot, ausgemalt worden. Er zeigte eine schlichte Frau in mittleren Jahren, mit durchhängendem Kinn und hervorquellenden Augen, was Zynikern den Eindruck vermittelte, jemand hätte einen großen Fisch in ein Kleid gestopft. Doch dem Künstler war es gelungen, in dem seltsam leeren Gesicht etwas zum Ausdruck zu bringen. Manche Bilder hatten Augen, deren Blick einem folgte, wenn man durchs Zimmer schritt. In diesem Fall starrten sie durch einen hindurch. Dieses Gesicht fand sich in jedem Haus. In Borograwien wuchs man mit der Herzogin auf, die einen beobachtete.
Polly wusste, dass ein Bild der Herzogin im Schlafzimmer ihrer Eltern hing, und sie wusste auch, dass ihre Mutter zu Lebzeiten jeden Abend einen Knicks davor gemacht hatte. Sie griff nach oben und drehte das Bild mit dem Gesicht zur Wand. Eine Stimme in ihrem Kopf sagte
Nein.
Polly achtete nicht darauf. Sie hatte sich entschieden.
Sie zog die Kleidung ihres Bruders an, stopfte den Inhalt des Tuchs in einen kleinen Beutel, den sie zusammen mit den zusätzlichen Sachen ganz unten im Rucksack verstaute, legte einen Zettel aufs Bett, griff nach dem Rucksack und kletterte aus dem Fenster. Es war Polly, die aus dem Fenster kletterte, doch Olivers Füße berührten unten den Boden.
Die Morgendämmerung machte eine dunkle Welt grau, als sie über den Hof des Gasthauses huschte. Die Herzogin blickte auch von dem Schild über dem Eingang herab. Pollys Vater war ein großer Loyalist gewesen, zumindest bis zum Tod ihrer Mutter. In diesem Jahr war das Schild nicht neu gemalt worden, und ein Klecks Vogeldreck ließ die Herzogin schielen.
Polly vergewisserte sich, dass der Karren des Rekrutierungsfeldwebels noch immer vor der Taverne stand. Der Regen der vergangenen Nacht hatte die bunten Fahnen schwer herabhängen lassen und ihre Farben getrübt. Nach dem Aussehen des dicken Feldwebels zu urteilen, würde es noch Stunden dauern, bis der Karren wieder auf der Straße war. Sie hatte jede Menge Zeit. Er schien ein langsamer Frühstücker zu sein.
Sie schlüpfte durch die Hintertür und ging bergauf. Oben blieb sie stehen und blickte zu dem erwachenden Ort zurück. Rauch kam aus einigen Schornsteinen, aber das Wirtshaus schlief noch – Polly stand immer als Erste auf und musste die Dienstmädchen aus ihren Betten scheuchen. Sie wusste, dass Witwe Klimm über Nacht geblieben war (ihr Vater meinte, es hätte so stark geregnet, dass sie nicht nach Hause zurückkehren konnte), und Polly hoffte um seinetwillen, dass sie jede Nacht blieb. Im Ort mangelte es nicht an Witwen, und Eva Klimm war eine warmherzige Frau, die meisterhaft zu backen verstand. Die lange Krankheit seiner Angetrauten und Pauls lange Abwesenheit hatten Pollys Vater sehr zugesetzt. Die alten Frauen, die ihre Tage damit verbrachten, aus den Fenstern zu schauen und alles zu beobachten, spionierten, ärgerten sich und tuschelten. Aber das machten sie schon zu lange; niemand hörte mehr auf sie.
Polly hob den Blick. Rauch und Dampf stiegen bereits von der Wäscherei der Mädchenschule auf. Wie eine Drohung ragte die Schule am einen Ende des Ortes auf, groß und grau, mit hohen, schmalen Fenstern. Immer herrschte dort Stille. Als Polly klein gewesen war, hatte man ihr erzählt, dass die »bösen Mädchen«
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