Weihnachtszauber 01
hin, dass ein anderer Mensch Teil seines Lebens gewesen war. Vielleicht hatte sie deswegen den Eindruck gehabt, er müsse unendlich einsam sein.
Jedenfalls konnte sie sich nicht vorstellen, jemand würde kein einziges Andenken aufbewahren, wenn er ein glückliches Leben führte. Dass William geglaubt hatte, er müsse sie erpressen, weil er einfach nicht erkannte, wie sehr sie ihm zugeneigt war, sagte sehr viel darüber aus, in welchem Licht er sich selbst sah. Doch trotz seiner barschen Worte hatte er ihr mit seinen Liebkosungen gezeigt, wie viel er für sie empfand. Er hatte sie gestreichelt und zärtlich gehalten und so heiße Lust in ihr erweckt, dass sie in Erinnerung daran wieder zu zittern begann. Zwar behauptete er, nicht zu wissen, was Liebe war, doch er hatte ihr nicht das Gefühl gegeben, als wären ihre Liebkosungen die Abzahlung eines Darlehens.
„Vinny?“ James riss ihre Tür auf, ohne sich die Mühe zu machen anzuklopfen. „Hast du schon etwas wegen meines Schuldscheins unternommen? Ich meine, ich könnte helfen. Irgendwie muss ich doch helfen.“
Sie zwang sich zu einem Lächeln. „Mach dir keine Gedanken mehr, James. Es ist alles in Ordnung.“
Oder vielmehr, es würde bald alles in Ordnung sein.
William fand es befremdlich, dass das Leben am folgenden Morgen weiterging, als wäre nichts geschehen, als hätte er sich nicht auf die abscheulichste Weise benommen. Dennoch erwachte London im Morgengrauen, und nur wenige Gassen von seiner Unterkunft entfernt bereiteten sich die vielen Straßenverkäufer auf den Markt vor.
Er trat aus dem Haus, zog den Mantel enger um sich und den Hut tiefer in die Stirn, als fürchtete er, als der Schuft erkannt zu werden, der er war. Doch niemand hob Zeter und Mordio an. Niemand schimpfte ihn einen Frauenschänder. Gestern hatte er eine unschuldige Frau mit hinterhältigen Mitteln in sein Bett gelockt, und heute strafte niemand ihn auch nur mit einem verächtlichen Blick.
Bis zu dem Moment, da William das graue Steingebäude genau gegenüber der Chancery Lane und somit vieler wichtiger Gerichtsgebäude erreichte, schien es ein Montag wie alle anderen zu sein – grau, trostlos, doch unumgänglich. Kaum hatte er allerdings die Tür zum Büro geöffnet, wusste er, dass es sogar ein noch trostloserer Tag werden würde.
Jedermann, angefangen von Mr. Dunning, dem Büroleiter, bis zu Jimmy, dem Botenjungen, saß regungslos da. Keiner sprach, kein Wort wurde gewechselt. David Holder, ebenfalls Schreibkraft im Kontor, neigte den Kopf kaum merklich nach links.
Dort stand ihr Arbeitgeber. Der Marquess of Blakely war ein ansehnlicher Mann, nur durch das Alter leicht gebeugt – und ein Tyrann der schlimmsten Art. Er behandelte jeden wie einen Lakaien. Nicht nur verlangte er den Gehorsam, der seinem Rang gebührte, er bestand darauf, dass man regelrecht vor ihm im Staub kroch. Statt einen Mann also für seine Fähigkeiten und seinen Einsatz anzuerkennen, wie William es insgeheim bei seiner Einstellung gehofft hatte, pickte er sich einen Schreiber heraus und vertiefte sich eingehend in dessen Arbeit, bis er einen Fehler fand. Er fand immer einen, da kein Mensch vollkommen sein konnte, so gewissenhaft er auch arbeitete, und dann entließ er ihn aus seinen Diensten. Jeden Tag lebten sie mit der Angst, ihre Arbeit zu verlieren.
Gerade heute und nach der schlaflos verbrachten Nacht war William innerlich nicht gut gewappnet gegen eine solche Katastrophe. Reglos blieb er stehen und erwiderte den eisigen Blick des Marquess.
„Aha.“
William senkte natürlich als Erster den Blick und, wenn auch etwas verspätet, gehorsam den Kopf. Hastig nahm er den Hut ab und wartete, während der alte Mann ihn weiterhin finster anstarrte.
Schließlich zog der Marquess eine Uhr aus seiner Jackentasche. „Wer immer Sie sind“, sagte er laut, „Sie sind eine Minute zu spät.“
„Verzeihen Sie, Mylord. Es wird nicht wieder vorkommen.“
„Nein, das wird es auch nicht.“ Der Marquess verlieh seinen Worten einen unheilvollen Klang. „Blight war doch Ihr Name.“
„White, Mylord. William White.“
Er hätte es nicht wagen sollen, Lord Blakely zu widersprechen. „Ah ja, Bill Blight“, sagte der Marquess drohend.
Seine Lordschaft hatte gesprochen, als stünde er nicht schon seit drei Jahren in seinen Diensten und als erschiene er heute zum ersten Mal. Andererseits wunderte es ihn nicht wirklich, dass er und die übrigen Schreiber nicht wie Menschen mit einem Namen und einer, meist
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