Weihnachtszauber 01
zu verlieren wäre hundert Mal schlimmer gewesen.
„Oliver war dein kleiner Bruder.“
„Ja, er war vier Jahre jünger als ich. Es war meine Aufgabe, ihn zu beschützen. Ich habe versagt.“ Er wunderte sich darüber, wie leicht ihm dieses Geständnis fiel. So lange hatte er Olivers Namen nie erwähnt, hatte sogar versucht, den Bruder aus seinem Gedächtnis zu tilgen. Und nun konnte er nicht aufhören, an ihn zu denken und über ihn zu sprechen.
Sebastian holte tief Luft und fuhr fort: „Es geschah kurz vor Weihnachten. Wir hätten eigentlich im Schulzimmer sein und lernen sollen. Doch unser Lehrer schlief mitten im Unterricht ein. Natürlich nutzten wir die Chance, uns aus dem Haus zu schleichen.
Es war ein so wunderschöner Tag. Wir holten unsere Schlittschuhe und rannten zum Mühlengraben. Oliver war schon vor mir auf dem Eis. Er sauste ein Stück den Graben entlang, bis zu der Stelle, wo dieser in einen kleinen See mündet. O mein Gott, ich sehe alles so deutlich vor mir, als sei es gestern gewesen! Er näherte sich der Mitte des Sees. Keiner von uns erahnte die Gefahr. Oliver begann sich zu drehen. Mit ausgestreckten Armen wirbelte er im Kreis herum. Und dann war er plötzlich nicht mehr da.“
Clara schwieg. Nur ihre Augen verrieten, wie nah die Tragödie ihr ging.
„So schnell ich nur konnte, fuhr ich zu der Stelle, wo ich ihn zuletzt gesehen hatte.
Ich hörte, wie das Eis um mich herum knirschte und krachte. Ich schrie um Hilfe. Ich schrie, bis mir die Stimme versagte. Niemand hörte mich. Dann sah ich Oliver. Er trieb unter dem Eis. Ich warf mich auf den Bauch und versuchte, ihn zu packen. Es gelang mir nicht. Immer, wenn ich dachte, ich hätte ihn fast erreicht, trieb er ein bisschen weiter ab.“
„Wie furchtbar ...“, flüsterte Clara.
„Irgendwann bemerkte mich einer der Stallburschen und schlug Alarm. Ich kann nicht sagen, wie viel Zeit inzwischen vergangen war. Das Wasser war so kalt, ich spürte meine Hände und Arme kaum noch. Jemand warf mir ein Seil zu. Aber ich konnte doch Oliver nicht einfach im Stich lassen. Selbst wenn es längst zu spät war, ich musste ihn erwischen!“ Sebastian schlug die Hände vors Gesicht und stöhnte laut auf. Erst nach einer Weile beendete er seinen Bericht: „Einer der Pferdeknechte schob schließlich eine Leiter über das Eis und gelangte so zu mir. Er zwang mich, zum Ufer zurückzukehren. Ich wäre lieber gestorben ... Aber der Bursche war stärker als ich.“
Clara schwieg.
„Oliver war doch noch so jung!“, brach es aus ihm heraus. „Ich hätte ihn retten müssen!“
Er rechnete damit, dass Clara sagen würde, ihn treffe keine Schuld. Bisher hatte jeder, der von Olivers Schicksal wusste, ihm das versichert. Monatelang hatte man es ihm immer wieder gesagt. So lange, bis die Leute dachten, er habe die Tragödie überwunden.
Clara reagierte anders. Sie hielt seine Hand und wartete schweigend darauf, dass er weitersprechen würde.
„Es war mein Fehler!“, stieß er hervor. „Ich war der Ältere und hätte der Vernünftigere sein sollen. Stattdessen schlug ich vor, den schönen Tag zu nutzen, um den Unterricht zu schwänzen und Schlittschuh zu laufen. Er hat immer getan, was ich wollte. Er hat mir vertraut. Und dann, als er mich brauchte, konnte ich ihm nicht helfen.“ Er presste ihre Finger so fest, dass sie einen Schmerzenslaut unterdrücken musste. „Die Männer haben sich zuerst ganz auf meine Rettung konzentriert. Ich war ja der Erbe. Der Zweitgeborene war nicht so wichtig.“ Seine Stimme klang bitter. „Er konnte geopfert werden.“
Tränen traten ihm in die Augen. Er wollte sie fortzwinkern, aber es war unmöglich.
Mit dem Handrücken fuhr er sich über die Lider. Es half nichts. Er musste weinen wie ein kleines Kind. Zwischen den Schluchzern sprach er abgehackt weiter: „Nie zuvor habe ich das jemandem anvertraut. Ich war sicher, irgendwann könnte ich es aus meiner Erinnerung tilgen. So lange habe ich niemandem mein Herz geöffnet, dass ich schon dachte, es wäre mir gelungen, mich vor all diesen beängstigenden Gefühlen zu schützen. Doch dann hast du mein ganzes Leben auf den Kopf gestellt.
Du hast mich zu einem anderen Menschen gemacht. Mit deiner Güte, deiner Klugheit, deiner Beharrlichkeit hast du mich dazu gebracht, dich zu lieben. O
Clara ...“
Sie erhob sich von ihrem Stuhl und setzte sich auf die Bettkante. Sie legte Sebastian die Arme um die Schultern und zog ihn an sich. Sie legte ihre Wange an die
Weitere Kostenlose Bücher