Weil du mich erloest
Gesprächsthemen überzuleiten, schloss, hatte ihr Neffe in Annes Augen für diesen Tag genug durchgemacht. Dem konnte Francesca nur zustimmen. Das leblose Gesicht des Toten, aus dem erstaunlich viel Blut geflossen war, kam ihr immer wieder ins Gedächtnis. Das war ein echtes Loch in seinem Kopf gewesen und echtes Blut. Irgendwie war das alles dennoch nicht ganz bei ihr angekommen. Auch was Gerard durchgemacht haben musste, konnte sie sich kaum ausmalen.
Die Ereignisse des Tages schienen auf unerklärliche Weise ihre Zurückhaltung der Familie gegenüber zum Schmelzen gebracht zu haben, denn sie wusste, dass sie und Ian einmal mehr davon betroffen waren. Den ganzen Nachmittag und Abend blieb er an ihrer Seite, ihre Hand in seiner oder seinen Arm um sie. Das erschien Francesca selbstverständlich, so sehr, dass sie gar nicht darüber nachdachte, bis gegen elf Uhr Ians Handy klingelte. Sie saß, eng von ihm umschlungen, auf einem der Sofas im Salon, ihre Wange ruhte auf seiner Brust. Dieses gemütliche Nest, sein gleichmäßiger Herzschlag und die Wärme des Feuers lullten sie ein. Er grub in seiner Tasche und blickte auf sein Telefon.
»Ich gehe ran«, sagte er knapp und küsste sie auf die Schläfe, bevor er aufstand. Alle im Raum blickten ihm nach, als er in die Eingangshalle hinaustrat, um das Gespräch anzunehmen. Eine angespannte Stille lag über allen, während sie auf seine Rückkehr warteten. Nur Anne durchbrach das Schweigen, sie wollte wissen, ob noch jemand etwas trinken wolle.
»Es war Markov«, bestätigte Ian die Vermutung aller. »Sie haben die Identität des Mannes geklärt«, sagte er und blickte Gerard an. »Sein Name ist Anton Brodsik. Die Chicagoer Polizei kennt ihn sein fast dreißig Jahren – er hat Vorstrafen wegen Überfall, kleinerer Drogendelikte, Raub. Man verdächtigt ihn, Verbindungen zur organisierten Kriminalität zu haben. Er hatte einen Ausweis mit falschem Namen bei sich.«
»Gibt es einen Hinweis auf sein Motiv?«, wollte Gerard wissen, der sich nun aufrecht hingesetzt hatte.
»Nichts Konkretes. Aber in den letzten zehn Jahren ungefähr hatte er bei seinen Taten immer wieder mit einem Mann namens Shell Stern zu tun. Die beiden sind vor drei Jahren bei einem prominenten Fall verhaftet worden – bei dem versuchten Kidnapping eines sechzehn Jahre alten Jungen in Winnetka, Illinois.« Ian sah Francesca an. »Die Polizei hatte damals allerdings nicht genug Beweise für eine Verurteilung. Überhaupt ist niemand dafür ins Gefängnis gekommen. Das Kind war der Sohn von Sheridan Henes.«
»Henes? Der Erbe der Erdölfirma?«, fragte James.
Ian nickte.
»Das FBI konnte die zwei nicht zweifelsfrei mit dem Fall in Verbindung bringen, aber Stern und Brodsik waren damals die Hauptverdächtigen. Das heißt, sie sind schon einmal mit dem Thema Entführung in Kontakt gewesen. Und sie haben versucht, Francesca zu kidnappen«, fuhr Ian fort. Seine Augen, die auf Francesca ruhten, glühten im Schein des Kaminfeuers.
Unwillkürlich erschauderte sie. Anne schnaufte unregelmäßig.
»Was ist mit dem anderen Mann, Stern?«, fragte James besorgt.
»Die Polizei hat ihn bereits gefunden. Er ist ebenfalls tot.«
»Was?«, riefen Elise und Anne gleichzeitig.
Wieder nickte Ian.
»Sie haben Sterns Leiche schon vor ein paar Tagen in einem kleinen Bach gefunden, erschossen. Niemand hatte ihn vermisst gemeldet, und sie konnten ihn bis heute nicht identifizieren. Aber nachdem Markov Brodsiks Ausweis hatte, konnte er dessen Weg nach England zurückverfolgen. Stern und er sind mit der gleichen Maschine angekommen, natürlich unter falschen Namen. Als das klar war, konnten sie Brodsiks echten Namen anhand von Fingerabdrücken in einer internationalen Kartei herausfinden. So ist die Polizei dahintergekommen, dass der andere Mann Stern sein musste, bedenkt man ihre gemeinsame Geschichte.«
»Und wer hat Stern umgebracht?«, fragte Gerard.
»Markov vermutet, dass Brodsik ihn aus dem Weg geräumt hat. Er meinte, es wäre nicht das erste Mal, dass sich Partner über solche Pläne in die Haare kriegen … oder nicht mehr teilen wollten, wenn es ums große Geld geht. Das müssen die Ermittlungen erst noch bestätigen. Aber warum Brodsik seinen Kompagnon getötet haben könnte ist mir noch nicht klar. Ich vermute, dass wir mehr darüber erfahren, sobald die Polizei herausgefunden hat, wo die beiden Männer untergekommen waren und man ihre Spur bis zu ihrer Ankunft an Heiligabend zurückverfolgen kann.«
»Sie
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