Weil du mich siehst
Ludwig wenig später ihr gegenüber am Küchentisch saß, war, wie jedes Mal, das Erste, was sie fragte: »Wie geht es Ihnen?« Das Zweite war: »Welche Widerstände sind Ihnen in der letzten Woche begegnet?« Und das Dritte: »Haben Sie wieder diese Gedanken gehabt?«
»Mir geht es gut«, antwortete Paula wie jedes Mal. »Ich habe alle Widerstände, so gut ich konnte, gemeistert.«, und »Nein, keine dieser Gedanken.«
Alle drei Antworten waren Lügen, sie fragte sich, ob Frau Ludwig das wusste, ob sie es ihrem Gesicht ablesen konnte.
Wie könnte es ihr gutgehen? Wo sollte sie die Kraft hernehmen, alle Widerstände zu bewältigen und wie zum Teufel sollte sie ohne Selbstmordgedanken durchs Leben gehen? Wie sollte sie auch nur einen Tag überstehen, ohne sich zu wünschen, bei ihnen sein zu dürfen?
»Waren Sie bei der Gruppentherapie?«, fragte Frau Ludwig jetzt.
Paula schätzte sie der Stimme nach mittleren Alters und etwas rundlicher ein. Sie konnte sich natürlich auch täuschen, denn richtig gelernt, ihren sechsten Sinn einzusetzen, hatte sie noch nicht. Sie vertraute einzig und allein ihrem Gefühl, und das ließ sie noch immer ziemlich häufig im Stich.
»Ja, dienstags und freitags, wie immer.«
»Und, hat es Ihnen gut getan?«
»Ich gehe gerne hin, ich fühle mich dann nicht so allein mit meinem Schicksal.«
Wieder eine Lüge. Sie hasste die Gruppentherapie. Sie hasste es, ihre Geschichte erzählen, sie mit anderen teilen zu müssen. Es war IHRE Geschichte, jede Sekunde war kostbar, zu kostbar, um sie vor anderen auszubreiten. Sie wollte die Momente, ihre Erinnerung, für sich behalten, sich darin suhlen, darin ertrinken.
Doch die Gruppentherapie war Bedingung dafür gewesen, sie aus der Klinik zu entlassen. Zwei Jahre lang hatte es gebraucht, soweit zu sein, auf eigenen Beinen zu stehen. Zwei Jahre hatte es gebraucht, die Ärzte zu überzeugen, sie gehen zu lassen.
Sie müsste zur Gruppentherapie gehen, zweimal die Woche, sie müsste mit wöchentlichen Besuchen einer Sozialarbeiterin rechnen, sie müsste einmal im Monat zum Arzt und sich durchchecken lassen. So wollten sie sichergehen, dass sie auch genug aß, dass sie nicht vergaß zu trinken, dass sie schlief. Sie ließen sie nicht gerne gehen, glaubten, sie wäre noch nicht soweit. Doch sie hatte sie überzeugt. Sie würde all diese Forderungen erfüllen. Sie würde alles tun – für Damian.
Und nun tat sie alles, alles, was in ihrer Macht stand.
»Wie geht es Damian?«, fragte Frau Ludwig.
Paulas Gesicht erstrahlte. »Gut. Es geht ihm gut. Ich habe gestern mit ihm telefoniert.«
»Wann werden Sie ihn wieder besuchen?«
»Mein Schwager holt mich am Samstag ab und fährt mich hin zu ihm. Ich werde einen ganzen Tag mit ihm haben.«
Paula freute sich. Bisher hatte sie ihn immer nur stundenweise gesehen. Ihre Schwester Sandra hatte Damian ein paarmal mit ins Krankenhaus gebracht, ihr aber irgendwann gesagt, dass es zu deprimierend sei. Für Damian oder sie selbst, hatte sie nicht gesagt. Aber Paula verstand es. Sie wollte auch nicht, dass Damian sie so sah.
Sandra hatte ihn bei sich aufgenommen, nach dem Unfall. Sie selbst hatte zwei Kinder, den damals dreijährigen Julian und die siebenjährige Lilly. Damian war zur Zeit des Unfalls vier gewesen. Er war bei einem Freund zum Spielen gewesen. Sandra hatte ihn am Abend dort abgeholt und mit zu sich nach Hause genommen. Dort war er jetzt seit genau 794 Tagen.
Inzwischen war er sechs Jahre alt, in diesem Sommer eingeschult worden und ein aufgeweckter kleiner Junge. Paula telefonierte mit ihm und schrieb – oder besser diktierte – ihm kleine Briefe. Der Gedanke an ihn war, was sie am Leben hielt. Die Aussicht auf eine gemeinsame Zukunft mit ihm.
»Und der Gruppentherapeut, Herr Bieling, wie kommen Sie mit ihm klar?«
»Sehr gut. Johannes ist sehr nett.«
»Ich habe mit ihm telefoniert«, sagte Frau Ludwig.
Oh je. Das konnte nichts Gutes heißen. Paula blieb still.
»Er sagt«, fuhr Frau Ludwig fort, »dass Sie sich verschließen, kaum ein Wort sagen.«
Nun nahm sie Paulas Hand. »Paula, ich weiß, dass es nicht einfach ist. Aber Sie sind jetzt seit zwei Monaten raus aus der Klinik. Sie müssen es irgendwie zurück in die Wirklichkeit schaffen. Verschließen Sie sich nicht vor allem und jedem, es gibt Menschen, die Ihnen helfen wollen. Öffnen Sie sich ein wenig. «
»Ich werde es
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