Weine ruhig
neben ihn legen, aber er war verschlossen und zog sich zurück.
Kurze Zeit später, noch vor Sonnenaufgang, hörten wir über uns Geräusche, und jemand machte sich daran, die Bretter und das Stroh zu entfernen. Wir erstarrten vor Schreck. Hatten unsere Verfolger unsere Fußspuren gefunden und uns bis hierher verfolgt? Eine dunkle Gestalt kroch auf uns zu, und einen Moment später hörten wir Elis vertraute Stimme.
Kaum hatte Eli sich zu erkennen gegeben, brach er auch schon in Tränen aus. Die beiden Brüder fielen sich in die Arme, und dann umarmten wir ihn alle und bombardierten ihn mit Fragen. Er berichtete, dass er, als er gerade die Straße überqueren wollte, Schritte gehört habe, die ihm Angst machten. Er sei bis zum Ende des Zuges gerannt und habe sich im letzten Wagon versteckt. Als er schließlich gewagt habe herauszukommen, habe er uns gesucht, aber nicht gefunden. Eli verstand, dass wir nicht länger auf ihn hatten warten können. Schließlich sei er losgegangen. Er habe einen Umweg gemacht und immer wieder eine Pause eingelegt, um sich zu verstecken. Deshalb sei er so lange unterwegs gewesen.
Worte können nicht beschreiben, wie froh wir waren, wieder alle zusammen zu sein. Unsere Herzen flossen über, und wir dankten Gott, dass wir so großes Glück gehabt hatten. Wir erinnerten uns an all die kleinen und großen Wunder, die uns in den vergangenen Monaten zuteil geworden waren. Als wir uns völlig erschöpft hinlegten, konnte Eli sich unter der Steppdecke aufwärmen. Ehe wir einschliefen, überlegte Vater noch, wie wir Vincent über unsere Rückkehr informieren sollten, so dass er uns wieder mit Nahrungsmitteln versorgen könnte.
»Großmama, du hast mir gar nicht erzählt, was die Simons erlebt haben, die als Erste aus dem Gefängnis geflohen sind. Habt ihr sie je wiedergesehen? Oder Josef den Schuhmacher?«, fragte Omer.
»Nach dem Krieg bekamen wir die traurige Nachricht, dass sie nicht so viel Glück hatten wie wir. Wenige Tage nach ihrer Flucht wurde die Familie Simon verhaftet und in ein Konzentrationslager deportiert. Die Mutter und die beiden Kinder wurden ermordet, aber der Vater hat überlebt -allein, krank und verzweifelt. Wir sahen ihn nach dem Krieg wieder und haben ihn kaum erkannt. Vor uns stand ein alter, gebrochener Mann, der sehr verbittert war und kaum verhehlen konnte, dass er uns um unser Glück beneidete. Auch Josefs Schicksal war tragisch. Am Tag nach der Flucht, als er noch auf dem Weg zu seinem Bekannten war; stöberten die Gardisten ihn auf und riefen ihn an, und als er nicht stehen blieb, haben sie ihn erschossen. Wir waren sehr traurig, als wir davon erfuhren, und haben tagelang um ihn getrauert.«
Lungenentzündung
Die Wirklichkeit schien uns unwirklicher als jede Fantasie. Als wir Monate später aus dem längsten Albtraum unseres Lebens erwachten, erzählten wir die unglaubliche Geschichte unserer dramatischen Flucht wieder und wieder. Doch für den Moment mussten wir zu unserer alten Routine zurückkehren. Zuerst mussten wir Kontakt mit den Tokolys aufnehmen und sie bitten, uns wieder mit Essen zu versorgen. Ich weiß nicht mehr, wie wir den Mut aufbrachten und wie wir es anstellten, Vincent am helllichten Tag mitzuteilen, dass wir zurückgekehrt waren. Aber ich erinnere mich gut daran, dass an diesem Tag, dem 25. Dezember 1944, das Ehepaar Tokoly mit Nahrungsmitteln kam. Wir mussten ihnen immer wieder die unglaubliche Geschichte unserer Flucht erzählen. Sie schrien vor Erstaunen auf, und in ihren Augen las ich, wie sehr sie uns für unseren Wagemut bewunderten. Sie bezeichneten uns sogar als Helden. Schnell verbreitete sich im Dorf die Nachricht von der jüdischen Familie, die nicht aufgegeben und es gewagt hatte, mitsamt ihren Kindern aus dem bestbewachten Gefängnis des Distrikts zu fliehen. Die Dorfbewohner waren mehr denn je bereit, uns zu helfen. Sie sahen unsere Flucht als heroische Tat an und als ein Wunder, ein Zeichen Gottes.
Nach einigen Tagen, als klar war, dass die Polizei uns nicht suchte, waren die Tage unter der Erde wieder genauso endlos und eintönig wie zuvor. Jeden Sonntag kam Vincent mit Nahrungsmitteln, wie früher. Das alte Jahr ging zu Ende und am Neujahrstag 1945 überraschten uns die Brüder Tokoly, indem sie uns mittags besuchten und zur Feier des Tages Brot, Getränke und Kuchen mitbrachten. Der Pfarrer schickte uns Fleischkonserven, Würste und Äpfel.
An den ersten drei Tagen des neuen Jahres besuchten uns die Brüder häufig. Sie
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