Weine ruhig
wegen der Kälte und weil Weihnachten war. Nach einer Weile begegneten wir einer Gruppe von Leuten, die uns erstaunt ansahen, uns aber nur frohe Weihnachten wünschten. Wir erwiderten den Gruß und fügten hinzu, dass wir auf dem Weg zu Verwandten auf dem Land seien, wo wir die Weihnachtstage verbringen wollten. Das klang nur vernünftig. Viele Bewohner der Stadt flohen in die nahen Dörfer, manche auf Pferdewagen, andere zu Fuß, meistens nachts, da die Luftangriffe vor allem tagsüber erfolgten.
Unsere Hände und Füße waren eiskalt. Glücklicherweise hatten wir warme Mützen und Wintersachen, die wir, samt der Daunendecke, aus der Wohnung geholt hatten. Wir gingen schnell, um uns zu wärmen, vor allem die Füße, und um Jarok noch vor Morgengrauen zu erreichen. Wir hatten noch einen weiten Weg vor uns. Ronny, der nur schwer gehen konnte, schleppte sich hinterher. Ich blieb bei ihm. Er litt sehr- zum einen wegen der Schmerzen in seinem Fuß, zum anderen wegen seines Bruders. Und er wurde von Gewissensbissen geplagt, weil er nicht auf ihn gewartet hatte. In seiner Verzweiflung sagte er leise, er werde am nächsten Morgen in die Stadt zurückkehren und sich den Behörden stellen, um wieder bei seinem Bruder zu sein. Er glaubte, dass sie Eli geschnappt hätten. Ich versuchte, ihn zu trösten und ihn davon zu überzeugen, dass sie bald wieder zusammen sein würden, sagte ihm, dass er die Hoffnung nicht aufgeben solle. Schließlich waren wir auf der Flucht kaum jemandem begegnet, weil alle Weihnachten feierten. Die Christen verschwendeten an diesem Abend keinen Gedanken an Juden, und es war nicht sicher, dass man Eli erwischt hatte. Die Chancen standen immer noch sehr gut, dass er den Weg zu uns nach Jarok fand. Ich glaube, dass Ronny aus meinen Worten Zuversicht schöpfte, und wir zogen weiter, blickten hin und wieder zurück, um uns zu vergewissern, dass uns niemand folgte.
Wir malten uns die Reaktion der Wachleute aus, wenn sie das Gefängnis am nächsten Tag leer vorfanden. Sie würden zweifellos außer sich vor Wut sein und sich gegenseitig beschuldigen, aber vor allem würden sie sich nicht erklären können, wie wir die Tür zum Kohlenkeller aufbekommen hatten, dem einzigen Raum, der ein Fenster besaß und somit einen Weg ins Freie eröffnete. Sie würden sich gedemütigt fühlen, denn niemandem war bisher die Flucht aus diesem Gefängnis gelungen. Doch nun hatte eine ganze Gruppe samt Kindern sie überlistet und war aus einem angeblich sicheren Gefängnis geflohen.
Wir waren überzeugt, dass man eine groß angelegte Suchaktion starten würde, um uns zurückzubringen und zu deportieren. Würden wir unser Ziel erreichen, ehe sie uns aufspürten? Zum Glück konnten sie nicht wissen, in welche Richtung wir gegangen waren, denn das Dorf Cabaj-Cäpor, wo wir bei dem Bauern untergekommen waren, der uns dann verraten hatte, lag in entgegengesetzter Richtung von Jarok, wo wir uns wieder unter der Erde verstecken wollten.
Die Nacht war sternenklar. Nach einem stundenlangen
Fußmarsch sahen wir endlich die ersten Silos am Ortseingang von Jarok. Unser Ziel waren die Weinkeller, die zwischen diesen Silos und den Häusern lagen.
Wir konnten uns noch an den Weg zu dem Loch erinnern, in dem wir uns dreieinhalb Wochen zuvor versteckt hatten. Wir nahmen uns zusammen, um nicht vor Freude laut zu schreien, als wir es erreichten und schleunigst hineinkrochen. Vater tarnte die Öffnung, so wie er es immer gemacht hatte. Wir waren glücklich und konnten immer noch nicht fassen, dass unsere waghalsige Flucht gelungen war und wir sogar »unser« Loch gefunden hatten. Vater sagte scherzhaft, dass wir jetzt nur noch einen minyan brauchten - zehn Männer, die älter als dreizehn sind -, um das Dankgebet zu sprechen.
Nur Ronny konnte unser Glück nicht teilen. Er war deprimiert und sagte, er würde nur bis zum Morgen warten. Wenn sein Bruder bis dahin nicht auftauchen würde, sagte er, würde er zum Gefängnis zurückgehen, um ihn zu suchen. Wir versuchten, ihn aufzuheitern und ihm diese Idee auszureden, denn wir wussten, dass die Gardisten ihn so lange foltern würden, bis er unser Versteck verriet.
Wir bereiteten uns schweigend auf die Nacht vor, deckten uns mit der weichen Steppdecke zu und schliefen sofort ein. Ehe ich mich hinlegte, versuchte ich, Ronny zu trösten. Aber er wollte nicht mit mir sprechen und nicht umarmt werden. Er war still und in sich gekehrt, überließ sich seinem Kummer. Ich wollte ihn beruhigen, mich
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