Weinland & Stahl
zerrten und -schubsten, kam Heaven sich vor wie in einem Labyrinth, das viel weniger
gebaut
als
gewachsen
oder mehr noch
gewuchert
schien. Kein Architekt, der auch nur halbwegs bei Verstand war, konnte solche Konstruktionen ersinnen, wie sie in diesem Gebäude vorzufinden waren.
Manche Winkel schienen Heaven schlicht
unmöglich
, die Treppenstufen waren nicht nur unterschiedlich hoch, sondern auch noch schief, und manche Gänge
führten
nicht einfach nur tiefer in das vielstöckige Haus hinein, sondern
schraubten
sich geradezu in sein Inneres.
Heaven wusste nicht, wohin man sie brachte – ob man sie direkt den Vampiren, deren gequältes Stöhnen wie ein nie verstummender Chor, mal lauter, mal leiser, durch die Flure wehte, zum Trunke vorwerfen oder erst dem Anführer vorführen würde. Sie hoffte auf letzteres.
Die Möglichkeit, dass man sie kurzerhand in ein kleines Zimmer sperren würde, um sie zur Prostitution zu zwingen, ließ sie außer Acht. Einen Körper wie den ihren würden die Blutsauger mit niemandem teilen. Da war sie sicher.
Schließlich, nach scheinbar endlosem Umherirren, zwangen ihre Aufpasser Heaven vor einer Tür zum Halten. Die handgeschriebene Bitte "hoi k'ei" ("nicht stören", wie Heaven, die jede Sprache und Schrift der Welt verstand, entzifferte) auf dem Türblatt galt für sie nicht. Ohne anzuklopfen öffnete einer der beiden Hypnotisierten die Tür, und der andere versetzte Heaven einen Stoß, der sie über die Schwelle taumeln und stürzen ließ. Dabei stieß sie sich irgendwo den Kopf, und für zwei oder drei Sekunden kehrten die Schatten zurück.
Gerade lange genug, um einer fremden Stimme Zeit zu geben zu sagen: "Geht! Lasst uns allein!"
Die Tür wurde geschlossen, und der dumpfe Laut, mit dem sie ins Schloss fiel, war für Heaven so etwas wie ein Signal, den Kopf wieder zu heben und sich vorsichtig zumindest auf Hände und Knie hochzuarbeiten.
Gerade eben war alles so schnell vonstattengegangen, dass sie keine Gelegenheit gefunden hatte, sich den Raum anzusehen. Das holte sie jetzt nach, und obwohl sie nicht wusste,
was
sie eigentlich erwartet hatte, wurde sie doch überrascht.
Das Zimmer war schlauchförmig angelegt, ähnelte einem nicht einmal sehr breiten Gang, und seine Einrichtung erinnerte an die eines Tempels. Es war fast zur Gänze vollgestopft mit altarähnlichen Dingen, Schreinen, Bilder und Schrifttafeln. Offenen Schalen entstiegen Dämpfe, manche farblos und beinahe unsichtbar, andere schreiend bunt.
Heaven entsann sich daran, mit Beth einmal in einem China-Restaurant gewesen zu sein, und sie hatten sich beide über die dort vorherrschende Kitsch-Kultur lustig gemacht. Dies hier jedoch übertraf den damaligen Anblick noch – nur wirkte er kein bisschen kitschig, sondern nur geheimnisvoll. Und gefährlich. Ohne dass Heaven auch nur eine Ahnung davon hatte, woher sich ihr dieser Eindruck aufdrängte.
Denn auch die einzige Person, die sich außer ihr noch im Raum befand, wirkte keineswegs bedrohlich.
Der Mann war für einen Chinesen auffallend groß und von geradezu athletischer Statur, die auch seine weitfallende dunkle Kleidung nicht kaschierte. Sein lackschwarzes Haar fiel ihm bis auf die Schultern, und sein Gesicht fand Heaven solange anziehend, bis er die Lippen spaltbreit öffnete –
– und zwei dolchartig gekrümmte Eckzähne sehen ließ!
Einmal mehr fühlte Heaven sich schmerzlich daran erinnert, dass sie ihre Fähigkeit, Vampire – zumindest auf geringe Entfernung – zu spüren und zu erkennen, verloren hatte.
Dass der vampirische Anteil ihn ihr von ihrem Stiefvolk jedoch nach wie vor erkannt wurde, bewiesen die Worte ihres Gegenübers:
"Wer bist du? Welcher Sippe gehörst du an?"
Das abseitige Lächeln, das sich auf seine Züge legte, erinnerte Heaven ein klein wenig an das Bild eines Drachen, das hinter ihm an der Wand hing.
Als sie nicht sofort antwortete, fuhr er fort: "Aber was mich noch viel mehr interessiert..." Er setzte eine winzige Pause, in der Misstrauen und etwas Fragendes in sein Gesicht Einzug hielten. "Warum, dunkle Schwester, stirbst du nicht wie alle anderen unserer Rasse?"
Bisher war Heavens Plan aufgegangen.
Doch wenn sie ehrlich zu sich selbst war, musste sie sich eingestehen, dass sie ihn gar nicht über diesen Punkt hinaus weitergesponnen hatte. Ab dieser Stelle wollte sie sich auf ihr Improvisationstalent verlassen und aus der Situation heraus entscheiden.
Und das tat sie nun.
"Darauf weiß ich selbst keine
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