Elfenmeer: Roman (German Edition)
Valuar
Der stark ansteigende Wind schnitt wie frostige Klingen in seine Haut. Die Fellstiefel versanken beinahe bis zu den Knien im Schnee, und die umherfliegenden Eissplitter prasselten wie pfeilschnelle Geschosse gegen seinen Körper. Über Mund und Nase trug Valuar ein Wolltuch, was das Atmen in der dünnen Luft noch zusätzlich erschwerte. Seine Beine fühlten sich so schwer an, als hielte ihn der Berg bei jedem Schritt fest. Marinel an seiner Seite schien es nicht besser zu ergehen. Sie schlug sich jedoch tapfer und hatte noch kein einziges Mal geklagt, obgleich die Beschwerlichkeiten des Valdoreener Schneegebirges neu für sie waren.
Aus verengten Augen blickte er zwischen Wolltuch und Kapuze zu ihr hinüber. Auf Grund des beständigen Krachens und Pfeifens von Eis und Wind war jedes Wort überflüssig, und so sah er sie lediglich an. Marinel hielt die Augen niedergeschlagen, setzte einen Schritt vor den anderen und schien dabei, genau wie er, stetig langsamer zu werden. Der Gipfel lag bereits hinter ihnen, doch noch waren sie zu hoch in den Gefilden des Himmelläufers, als dass sie bereits eine Veränderung zu den Unannehmlichkeiten des Aufstiegs spüren konnten.
Valuar blickte gen Himmel, wo bereits die ersten Sterne aufgingen. Bald würde Finsternis aufziehen, und davor mussten sie noch ihr Lager für die Nacht bereiten. Gegen Wind und Schmerzen ankämpfend, sah er sich zwischen zerklüftetenFelsen und dem steil abfallenden Schneehang um. Ein Stück weiter unten erkannte er eine waagrecht anmutende Senke, die zu zwei Seiten von einer Steilwand umschlossen wurde. Dort wären sie vor dem Wind geschützt und könnten ihren Beinen etwas Ruhe gönnen.
Valuar griff Marinels Arm und wies mit einer Kopfbewegung dorthin. Marinel nickte, und einen Moment lang schienen ihn ihre Augen über dem Tuch anzulächeln.
Der letzte Abschnitt war schnell bewältigt, der Gedanke an Wärme und Rast lockte die letzten Reserven aus ihren erschöpften Körpern. Valuar hielt Marinels Hand – soweit dies mit den dicken Fellhandschuhen möglich war – und führte sie zur Senke hinab. Dort hieß er sie zu warten, bis er das Gelände auf Stabilität geprüft hatte, doch Marinel ignorierte seine stumme Anweisung natürlich. Hocherhobenen Hauptes und mit vor Spott glimmenden Augen schritt sie an ihm vorbei und testete die Festigkeit des Schnees. Schließlich wies sie ihn mit einer Verbeugung an, näher zu treten, was er lediglich mit einem Kopfschütteln beantwortete.
Schweigend machte er sich daran, den Schulterbeutel abzuladen, Decken auszubreiten und sie im Kampf gegen den Wind über ihr kleines Nest zu spannen. So entstand ein geschützter Raum, der gerade groß genug war, um sie beide in sitzender Haltung aufzunehmen. Sie hatten nichts, womit sie ein Feuer hätten entzünden können, und so saßen sie einfach eng beieinander und genossen die unbewegte Luft. Ihre Körperwärme erfüllte bald den Innenraum ihres provisorischen Zeltes, und als die Schmerzen langsam aus Valuars Gliedern wichen, zog er die Handschuhe aus und kramte in seinem Beutel nach etwas Essbarem. Mittlerweile war es vollkommen dunkel, und Valuar konnte sich lediglich durch den spärlichen Rest seiner Habe tasten. Schließlich erfühlte er das eingewickelteTrockenobst und atmete erleichtert auf. Er zog das Wolltuch von seinem Mund und sog die kühle Luft ein. Er hatte stets das Gefühl, zu wenig Sauerstoff zu bekommen.
»Hier.« Er reichte Marinel ein Stück Obst, und auch sie nahm ihren Gesichtsschutz ab. Sie bedankte sich, und eine Weile saßen sie einfach nur schweigend da und aßen.
Sie hatten bereits die letzten Wochen auf engstem Raum miteinander verbracht, doch anfangs hatten sie nicht gewusst, worüber sie reden sollten, und später war der Aufstieg so anstrengend geworden, dass sie keine Kraft mehr zum Sprechen gehabt hatten. Es war eine sonderbare Art des Zusammenseins, denn schließlich waren sie ja auch Konkurrenten. Ihre anfängliche Befangenheit hatte sich aber während der aufgezwungenen Gemeinschaft gelegt. Nur siebzehn von über dreihundert Anwärtern würden den Rittereid leisten. Dies war ihre Abschlussprüfung, und Valuar wünschte Marinel von Herzen, dass sie eine der Auserwählten sein und die Prüfung bestehen würde. Niemand hatte härter dafür gearbeitet als sie, denn Marinel war von niederer Geburt. Von Rechts wegen durfte jeder Elf an der Ausbildung zum Ritter teilnehmen, sofern er die Prüfungen bestand. Es spielte keine Rolle,
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