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Weiskerns Nachlass

Weiskerns Nachlass

Titel: Weiskerns Nachlass Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Hein
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das seine gesamte freie Zeit kostete und weit mehr als das Zeitbudget einer halben Stelle. Die Kollegen bemerkten es natürlich, es gab wohlmeinende oder ironische Hinweise, er könne sich seine Lehrtätigkeit ökonomischer gestalten. Als sich Schlösser einmal nach seinem enormen Arbeitspensum erkundigte und ihn fragte, wieso er selbst die Vorlesungen zum Thema seiner Doktorarbeit   –   ihretwegen war man auf ihn aufmerksam geworden, hatte ihn zu einem Vorstellungsgespräch geladen und ihm schließlich die Stelle angeboten   –   nur in einem einzigen Studienjahr anbot und als einziger Dozent keine der Lehrveranstaltungen wiederholte, hatte er den Kopf geschüttelt und erwidert: »Wiederholen? Dasselbe noch einmal formulieren? Ach nein, dafür bin ich nicht geeignet. Dazu bin ich zu arrogant.«
    Und dann hatte er gelächelt, sehr freundlich und überaus verbindlich, so dass Schlösser unsicher sein musste, wie ernsthaft er das meinte.
    Das war Jahre her. Irgendwann hatte er einen älteren Vortrag ausgraben müssen, weil er im Sommer nicht dazugekommen war, einen neuen Stoff zu erarbeiten, da ihn andere Aufträge, mit denen er Geld verdienen musste, davon abgehalten hatten. Es waren für ihn unangenehme Wochen, als er in der Sitzung die Veränderung bekannt gab und das Forschungsprojekt einer Studiengruppe als Begründung erwähnte. Keiner der Kollegen hatte sich dazu geäußert, keiner von ihnen erhob einen Einwand, aber natürlich verstanden alle, dass auch er nun zu einem älteren, vor Jahren ausgearbeiteten Manuskript greifen werde. Sie werden es genossen haben. Mit Vergnügen werden sie registriert haben, wie der arrogante Adler auf dem harten Boden ihrer Realitäten gelandet   –   oder vielmehr aufgeschlagen war und sich Beulen und Blessuren geholt hatte. Und bei dem ersten wiederholten Vortrag, als er die alten, vor Jahren in einem grauen Leitz-Ordner abgehefteten Seiten wieder aufschlug, um sie vorzulesen, war ihm unbehaglich. Ihm war, als hätte er Fieber, und wie ein kleiner Schüler dachte er daran, die Veranstaltung wegen Krankheit abzusagen, sich in die Krankheit zu flüchten. Am Pult war er verlegen und nervös, er musste sich mehrmals unterbrechen, um nach der Wasserflasche zu greifen, da ihm ein Kloß im Hals zu stecken schien. Unsinnigerweise befürchtete er, dass einer der Studenten ihn darauf aufmerksam machen würde, ihm sage, er habe diesen Vortrag bereits vor fünf Jahren gehalten, stattdessen gab es nach der Veranstaltung ein freundliches Klopfen aufdie Tische, das ihm sogar heftiger und begeisterter als üblich erschien, so dass er sich fast verbeugt hätte. Und ein weiteres Jahr später trug er wiederum einen älteren Text vor, den er diesmal rechtzeitig und von vornherein angekündigt hatte, weshalb er vor den Kollegen keine Veränderung bekannt geben musste. Und dann hatte er häufig und wie alle anderen Kollegen zu ausgearbeiteten Manuskripten gegriffen. Ich habe nur eine halbe Stelle, hatte er sich gesagt, bei einer halben Stelle kann keiner mehr von dir verlangen, auch du selbst nicht. Und dennoch war es ihm unangenehm, und dieses Unbehagen blieb.
    Etwas hatte sich verändert. Er hatte sich verändert. Sein Ehrgeiz war geschwunden, war ihm abhandengekommen, hatte sich leise und unmerklich verabschiedet. Er ertappte sich, wie er bei den Vorbereitungen für seine Seminare flüchtig die Texte durchging, in der Sekundärliteratur überdrüssig blätterte, sich lustlos Notizen machte, nicht mehr an dem Thema interessiert war, sondern sich lediglich Stichpunkte herausschrieb, um für das Seminar gewappnet zu sein. Folgte er nun seinen Studenten in ihre allgemeine Gleichgültigkeit, ihre Apathie? Hatte er sich von ihnen anstecken lassen, von ihrer überwältigenden Teilnahmslosigkeit in seinen Lehrveranstaltungen, dem ganzen Studium gegenüber? Oder begann damit das Altern, sein Altern? Ein dummes Haushalten mit den eigenen Kräften, die Rücksicht auf sich selbst? Nun fehlte nur noch, dass er sich einen Mittagsschlaf angewöhnt, sich wie Rothmeier nach dem Mittagessen in sein Arbeitszimmer zurückzieht, der Sekretärin mitteilt, für eine halbe Stunde unerreichbar zu sein, um sich dann aufs Ohr zu legen.
    Und wann hatte das angefangen? Seit wann unterschied er sich nicht mehr von den Kollegen, wann hatte sein Abstieg in die Normalität begonnen? Wenn er ehrlich war, musste er sich eingestehen, dass er seit Jahren auf diesem Weg dahinschlitterte. Vielleicht hatte es mit der

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