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Weiskerns Nachlass

Weiskerns Nachlass

Titel: Weiskerns Nachlass Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Hein
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interesselos, ohne jede Absicht. Er kann es sich nicht vorstellen, aber es ängstigt ihn.
    Die Zeit läuft ab, seine Zeit. Dieser Gedanke war ihm im vorigen Jahr zum ersten Mal gekommen, als er von einem Kommilitonen hörte, der in Pension ging. Ein Kumpel, ein Kneipenbruder der Studienjahre, ein Tausendsassa und Draufgänger, ein Mann seines Jahrgangs war Rentner geworden. Er war erstaunt, als er davon hörte, irritiert, glaubte an einen Scherz, einen Steuertrick, einen Schachzug, um sich irgendwelchen Zahlungen und Verpflichtungen zu entziehen, aber im nächsten Moment war er tief erschrocken. Die Einschläge kommen näher, mit diesen Worten hatte ein Mann in einer Kneipe grinsend den Tod eines Nachbarn kommentiert. Eine Pensionierung ist auch so ein Einschlag. Eine Voranmeldung, ein erster Tod. Die große Skala hat ein Ende, und man ist bedenklich weit auf ihr vorangekommen.
    Stolzenburg geht, bevor er das Institut verlässt, in die Bibliothek. Er will sich erkundigen, ob seine über die Fernleihe bestellten Bücher endlich eingetroffen sind. Marion, die Bibliothekarin, gratuliert ihm zum Geburtstag. Offenbar hat Sylvia dem ganzen Haus Bescheid gegeben. Er dankt ihr, fragt nach seiner Bestellung und erfährt, dass die Bücher noch immer nicht eingetroffen sind.
    »Ist es sehr dringend, Rüdiger? Soll ich anrufen und nachfragen?«
    »Nein, alles nicht wichtig. Ich komme momentan sowieso nicht dazu.«
    »Und was machst du heute? Ich denke, es steigt eine große Feier.«
    »Auch dafür habe ich keine Zeit. Morgen früh muss ich wieder mal nach Basel, da will ich ausgeschlafen sein.«
    »Basel? Sehr schön. Für mich wäre Basel das schönste Geburtstagsgeschenk.«
    »Ja, wenn ich dort Zeit hätte. Aber ich fliege nur einen Tag hin und werde froh sein, beim Umsteigen in München den nächsten Flieger zu erreichen. Von Basel werde ich nichts sehen, gar nichts.«
    »Trotzdem, ich fliege einfach gern. Für mich wär es ein Fest.«
    Er geht zum Zeitschriftenregal, blättert kurz in den beiden ausliegenden Tageszeitungen, dankt ihr nochmals und wünscht ihr einen schönen Feierabend, denn es ist Mittag und Marion wird das Institut um eins verlassen. Sie hat einen Vertrag über sechzehn Wochenstunden, weshalb die Institutsbibliothek nur noch an zwei Vormittagen und einem Spätnachmittag offen ist. Von einer halben Stelle, wie er sie hat, kann sie bloß träumen, und sie weiß, dass die winzige Bibliothek auf der Streichliste oben steht, ganz oben, und sie wird die nächste Überprüfung nicht überleben. Neuanschaffungen sind äußerst begrenzt, sie ist auf Belegexemplare und Buchspenden angewiesen. In den letzten zwanzig Jahren gab es zweimal größere Zugänge, als sie die Witwen zweier emeritierter Professoren überreden konnte, die umfänglichen Privatbibliotheken ihrem Institut als Schenkung zu überlassen.
    Trotz ihrer prekären beruflichen Situation war Marion stets gut gelaunt, sie beklagte sich nie. Sie war eine hochgewachsene üppige Frau, lebensfroh und aufgeschlossen. Sie hatte sich kurz nach der Geburt einer Tochter von ihrem Mann getrennt und ihr Kind allein aufgezogen. Seit acht Jahren hatte sie ein Verhältnis mit einem Professor von der medizinischen Fakultät, einem Orthopäden, der mit einer querschnittsgelähmten Frau verheiratet war und mit Marion jedes Wochenende verbrachte. Die Ehefrau wurde an diesen beiden Wochentagen von einer Krankenschwester betreut. Über das Verhältnis ihres Mannes war sie informiert und billigte es, sie verstand ihn, auch wenn sie es vermied, Marion kennenzulernen, sie zu sehen. Der Orthopäde war ein passionierter Segler und fuhr vom frühen Frühjahr bis in den Herbst hinein jedes Wochenende mit der Geliebten zu seinem Segelschiff auf einem See irgendwo in der Mark, um sich dort zu erholen. Im Winterhalbjahr trafen sie sich in Marions Wohnung und unternahmen, wenn es sein Dienstplan erlaubte, mit dem Auto kurze Reisen in die umliegenden Städte oder buchten eine zweitägige Flugreise in Städte der Nachbarländer. Marion gefiel diese Beziehung, wie sie Stolzenburg erzählt hatte. Etwas Spaß und keinerlei Verpflichtungen, das war alles, was sie von Männern erhoffte und erwartete. Und von ihr sei auch nicht mehr zu erwarten, jedenfallswürde sie die Beziehung mit ihrem Professor umgehend beenden, wenn es Schwierigkeiten gäbe. Falls seine gelähmte Ehefrau mit dem getroffenen Arrangement nicht mehr zurechtkäme oder der Professor mehr von ihr verlangen sollte, als sie zu

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