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Weiß (German Edition)

Weiß (German Edition)

Titel: Weiß (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harper Ames
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gegen Null. Dieser schmale Gang war eindeutig seine beste Option.
    Ohne weiter nachzudenken, riss Lewin seinen Oberkörper herum und warf sich nach links, um aus dem vollen Lauf heraus noch die Richtung wechseln zu können. Erschrocken musste er feststellen, wie sein rechter Fuß bei diesem Manöver nun tatsächlich ins Rutschen geriet. Die kleinen Sandkörner gaben unter dem heftigen Ruck nach und mit ihnen glitt auch Lewins Fuß immer weiter von seiner ursprünglichen Position fort. Mit einem angestrengten Keuchen verlagerte er sein Gewicht auf den vorderen linken Fuß und fing so den drohenden Sturz in letzter Sekunde ab. Er presste seine Hände in den Staub und stieß sich nur einen Augenblick später kraftvoll wieder ab. Nach ein paar taumelnden Schritten fand er in seinen Rhythmus zurück und stürzte nun umso hastiger auf den schmalen Spalt zwischen den beiden Häusern zu.
    Sein Herz hämmerte und er konnte sein Blut in den Ohren rauschen hören. Nicht nur das Laufen strengte ihn an. Die Angst saß ihm im Nacken. Sie durften ihn nicht erwischen. Nicht schon wieder. Er betete zum Himmel, dass in der Dunkelheit vor ihm heute ausnahmsweise keine Fahrräder abgestellt wären und beschleunigte noch einmal seine Schritte. Sein Flehen wurde erhört.
    Mit wenigen Schritten durchquerte Lewin den dunklen, muffig riechenden Spalt zwischen den Häusern und hastete durch einen ungepflegten Vorgarten. Ein paar Augenblicke später spürte er, wie seine Aufregung sich mit jedem Schritt mehr auf ein erträgliches Maß reduzierte. Seine Chancen waren gerade enorm gestiegen. Damit hatte er selbst nicht mehr gerechnet. Wenn jetzt nichts Ungeahntes mehr passierte, würde er es vermutlich schaffen, seinen Arsch ein weiteres Mal zu retten.
    Lewin blinzelte. Die Sonne stand um diese Uhrzeit noch tief am Himmel und er lief ihr direkt entgegen. Er kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Schweiß lief ihm über das Gesicht. Noch hundert Meter bis zur nächsten Abzweigung und dann war er die Schweine los.
    Lewin konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. Er hatte es geschafft! Heute würde ihm niemand die Fresse polieren!
    Eine Sekunde später verschwand jegliche Zuversicht aus Lewins Gedanken. Wie aus dem Nichts tauchte plötzlich ein kleiner Schatten vor ihm auf und versperrte ihm den Weg. Er hatte sich zu früh gefreut. Seine Mundwinkel sackten nach unten und ein Stechen fuhr durch Lewins Brust. Einen Sekundenbruchteil später explodierte ein höllischer Schmerz in seinem Kopf, als Kneifs Faust ihn mit voller Wucht ins Gesicht traf.

Kneif
    Das Erzählen einer Geschichte ist nicht einfach. Man muss ständig aufpassen, dass keine wichtigen Informationen verloren gehen. Dafür werde ich wohl selbst sorgen müssen. Schließlich will ich, dass Du mich verstehst. Mich und meine Taten. Du sollst merken, dass Du an meiner Stelle nicht anders gehandelt hättest. Dass auch Du diese Stadt vernichtet hättest. Was ich getan habe, war kein grausamer, unmenschlicher Akt. Es war mehr eine Art Selbstschutz. Der letzte Ausweg. Weiß war kein guter Ort. Diese Stadt war beschädigt, ramponiert und von innen heraus total verseucht, was sich am deutlichsten an ihren Bewohnern zeigte. Und deshalb erzähle ich Dir jetzt etwas über Kneif. Dieser hässliche Zwerg wäre unter normalen Umständen zwar nicht einmal den Dreck unter meinen Fingernägeln wert, aber damit Du mich verstehst, muss ich wohl das ein oder andere Übel in Kauf nehmen.
    Kneifs richtigen Namen kenne ich nicht, aber das ist auch nicht notwendig. Ich glaube kaum, dass irgendjemand in Weiß wusste wie er wirklich hieß. Vermutlich nicht einmal er selbst.
    Die meisten Menschen hatten Angst vor Kneif. Er war unberechenbar. Ich bin kein obe rflächlicher Mensch und stecke Andere ungern in Schubladen, aber Kneif konnte man seine Boshaftigkeit bereits im Gesicht ablesen. Seine Augen waren stets zu schmalen Schlitzen verengt, seine Lippen zu dünnen Strichen aufeinandergepresst. Auf seinen Wangen vergnügten sich Hunderte Sommersprossen, die jedoch nichts Niedliches an sich hatten. Im Gegenteil, durch sie wirkte Kneifs Gesicht irgendwie immer schmutzig. Oder blutbespritzt. Er sah aus wie ein Troll aus einem miesen Horrorfilm. Oder wie eine männliche Version von Pipi Langstrumpf. Eine, die aus der Hölle kam. Sein feuerrotes Haar war dünn und klebte ihm fettig am Schädel. Am Körper trug er meist nicht viel mehr als Lumpen. Zerrissene Shirts, Hosen mit faustgroßen Löchern, die vor

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