Weiße Stille
P ROLOG
Im Scheinwerferlicht der Streifenwagen sah man den Schmerz und die Angst im Gesicht der Frau. Doch das Kind in ihren Armen fühlte sich geborgen und in Sicherheit. Die Frau rannte, so schnell ihr geschändeter Körper es zuließ, und drückte den Kopf des Jungen an ihre Wange. Ihrer beider Schweiß, ihr Blut, ihr Speichel und ihre Tränen vermischten sich, und ein widerlicher Gestank stieg von den beiden Körpern in die feuchte Hitze auf.
Stolpernd rannte die Frau weiter und zuckte zusammen, als sie mit nackten Füßen über scharfkantige Steine und spitze Zweige lief, denn ihre Schuhe hatte sie längst verloren. Als sie immer tiefer in den Wald vordrang und die Bäume ihr ausreichend Schutz boten, blieb sie keuchend stehen. Sie zerrte die kleinen Hände des siebenjährigen Jungen von ihrem Nacken, löste seinen krampfhaften Griff. Dann versuchte sie zu lächeln, als sie den Jungen auf den Waldboden setzte. Auf ihren Lippen glitzerten schwarze Schottersplitter.
»Du musst ganz leise sein«, sagte sie. »Ganz, ganz leise.« Ihre rauchige Stimme besaß einen mexikanischen Akzent.
Der Junge umklammerte die Beine der Frau, doch sie stieß ihn grob zurück, damit er ihre Wunden nicht berührte. Ungerührt beobachtete sie, wie der Junge stürzte, sich schluchzend aufrappelte und wieder auf sie zu kroch. Tränen strömten ihm über die Wangen.
»Nein!«, zischte die Frau und schüttelte den Kopf. »Nein!«
Der Junge weinte.
Sie kauerte sich hin. »Du musst dich verstecken!« Sie zeigte auf das Gestrüpp ringsum. »Geh. Ich bin hier.« Kurz drückte sie seine Hand.
Der Junge gehorchte. Als die Frau auf die Lichtung rannte, knackten Äste und Zweige unter ihren Füßen. Ihr Gesicht war in Dunkelheit getaucht, doch im schwachen Licht einer Taschenlampe sah man die Erleichterung auf ihren Zügen.
Der Mann lief zwischen den Bäumen hindurch auf sie zu. Er musterte seine blutverschmierte, verdreckte, verschwitzte Frau. Mit einer Hand umklammerte sie ihre zerrissene Bluse, um sich einen letzten Rest Würde zu bewahren. Als sie sich an die Brust des Mannes fallen ließ, stieß sie raue, tierhafte Laute aus.
Der kleine Junge beobachtete sie.
Als ich die Treppe hinaufstieg, traf ich einen Mann, der nicht da war.
Heute war er wieder nicht da.
Und ich wünschte so sehr, er würde wegbleiben.
» Mira , Domenica«, sagte der Mann. »Schau.«
Domenica blickte in die Richtung, aus der sie gekommen war. Hinter den Bäumen wütete ein Feuer. Dichte schwarze Rauchschwaden stiegen zum Himmel.
Die Frau war wie gelähmt.
»Höllenfeuer«, flüsterte sie, und die Glut der Flammen spiegelte sich in ihren Augen.
Doch es schimmerte noch etwas anderes, viel Schrecklicheres darin.
ERSTER
TEIL
1. R IFLE , C OLORADO
Als Jean Transom erwachte, fiel ihr Blick auf das Licht ihrer Schreibtischlampe. Schlagartig überkam sie das Gefühl, das sie bereits gequält hatte, ehe sie eingenickt war – das Gefühl, ihr Leben sei aus den Fugen geraten. Vor ihr lagen die beiden Ermittlungsakten mit den sorgfältig beschriebenen und mit Randnotizen versehenen Seiten. In der einen Akte befanden sich keine Fotos, nur eine Zeichnung – ein harmlos aussehender Grundriss aus geometrischen Figuren – Rechtecke, Kreise und Quadrate. Doch die Zeichnung stellte einen Ort dar, der die Hölle gewesen war.
Jean seufzte, stützte die Hände auf die Schreibtischplatte und stemmte sich hoch.
Sie zog sich aus, stieg in die Duschkabine, stellte sich unter den heißen Wasserstrahl, seifte ihren Körper ein. Nach dem Duschen ging sie ins Schlafzimmer und zog Unterwäsche, eine weiße Bluse und eine enge braune Hose an, dazu weiche Lederschuhe.
»Wo steckst du, McGraw? Komm her, mein Kleiner«, sagte sie, als sie in die Küche ging. Als sie den Kater sah, kauerte sie sich hin und streckte die Hand aus. »Na komm schon, McGraw, du süßer Kerl.«
Der Kater mit dem glänzenden schwarzen Fell funkelte sie an.
»Ja, du bist ein schöner Bursche. Und du weißt, wie du einen anschauen musst. Aber das weiß ich auch, du würdest dich wundern. Soll ich dir mal eine Geschichte darüber erzählen?« Der Kater drehte sich um, hob den Schwanz und ging langsam zu seinem Schlafplatz in der Ecke.
»Du Faulpelz«, sagte Jean. »Hier in meinem Haus wohnt ein Kerl, der nicht mit mir sprechen will? Na gut, ich kann auch ohne dich.« Sie schaltete ihre alte Stereoanlage ein. Ein paar Sekunden sang sie leise die Melodie mit, ohne den richtigen Ton zu treffen.
Sie aß ihr
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