Weiße Stille
Mittag seid ihr runter vom Berg, oder wir erschießen euch.‹«
Lasco schwang irgendetwas durch die Luft und versuchte, Bob und den heulenden Wind zu übertönen.
»Mein Gott!«, stieß Sonny hervor, sprang durch die Lücke zwischen Bob und Mike und hob das Fernglas vor die Augen. Er sah einen Skifahrer, der kreuz und quer durch den weichen, nassen Schnee fuhr. Auch Bob und Mike starrten wie gebannt auf den Fremden. Angst kroch in ihnen hoch. Über ihnen hatte der Wind den Schnee von den Felsvorsprüngen gefegt und presste ihn tief in Spalten und Ritzen. Der Skifahrer konnte unmöglich sehen,was für eine Fläche er überquerte, und er kannte offenbar nicht die Gefahren, die er heraufbeschwor, wenn sich ein Schneebrett löste. Offensichtlich wusste er nicht, dass der schwarze Felsen die Wärme der Sonne speicherte, sodass der Schnee sich unter der Schneeschicht in Wasser verwandelte, das den Berg hinunterrieselte und das gesamte Schneefeld zu einem gefährlich instabilen Gebilde machte.
Und dann geschah es.
Plötzlich war ein lautes Krachen und Knacken zu hören, gefolgt von einem schrillen Heulen wie von einem Überdruckventil, als das Gewicht des Schnees die Luft aus unsichtbaren Hohlräumen presste, die das Schmelzwasser geschaffen hatte.
»Lawine!«, brüllte Bob.
»Nach rechts!«, rief Mike. »Schnell, nach rechts!«
Binnen Sekunden schoss eine riesige weiße Wolke zum Himmel, als ungeheure Massen nassen Schnees in Bewegung gerieten und in die Tiefe rutschten, schneller und schneller, genau auf den Rettungstrupp zu. Das Schneebrett gewann an Fahrt und Masse und begrub auf seinem Weg alles unter sich. Ein ohrenbetäubendes Donnern erfüllte den bisher so stillen Nachmittag. Die Luft vibrierte.
Eine Sekunde später war die Lawine heran.
Mike hatte das Gefühl, als würde ein Teppich unter seinen Füßen weggerissen. Sekundenlang flog er durch den wirbelnden Schnee, wobei er verzweifelt versuchte, auf den Schneemassen zu schwimmen, um nicht darunter begraben zu werden, doch er konnte seine Bewegungen nicht kontrollieren und war hilflos den Kräften der Natur ausgesetzt. Der Lärm war unvorstellbar. Hätte es ein Publikum gegeben, es hätte das Geschehen in fasziniertem Entsetzen beobachtet – bis zu Mikes unsanfter Landung, die seltsamerweise völlig geräuschlos erfolgte.Als Bob vierzehn Jahre alt war, hatte er im Biologieunterricht den Augapfel einer Kuh sezieren müssen. Er konnte sich erinnern, dass der Augapfel immer wieder unter dem Skalpell weggerutscht war. Als es Bob schließlich gelungen war, ihn durchzuschneiden, hatte es leise geknirscht: Der Lehrer hatte den Augapfel eingefroren, um den Verwesungsprozess aufzuhalten.
Jetzt starrte Bob mit eiskalten Augäpfeln in die schneeweiße Welt, die ihn umgab, und dieser Anblick war kaum weniger schrecklich als die dreißig Jahre alte Erinnerung. Wenn er es nicht schaffte, hier herauszukommen, würde man seinen konservierten Leichnam in hundert Jahren finden, oder in tausend Jahren – oder niemals. Bob erfuhr am eigenen Leib, dass man nicht aus voller Kehle schreien konnte, wenn einem die Luft zum Atmen fehlte, doch er bemühte sich trotzdem nach Kräften. Alles war besser, als im Schnee gefangen auf die Ewigkeit zu warten.
Plötzlich fiel ihm auf, dass in der winzigen Höhle, in der er lag, rechts über ihm der Schnee heller, beinahe durchscheinend aussah. Bob stieß den rechten Arm durch das helle Fenster und schloss die Lider, als das Licht des grauen Tages ihm unvermittelt und schmerzhaft in die Augen stach. Eine Minute später hatte er sich aus der Schneehöhle freigewühlt.
Schwitzend und keuchend von der Anstrengung, schickte er ein Stoßgebet zum Himmel.
Er war noch einmal davongekommen.
Denis Lasco hatte sich gerade einen Meter von der Leiche der Frau entfernt, als diese von der heranrasenden Lawine aus ihrem Schneegrab gerissen wurde und Denis einen wuchtigen Schlag in den Rücken versetzte, der ihm den Atem raubte. Dann stürzten er und die Tote kopfüber auf einen Felsrücken unter ihnen zu.
Als Lasco zu sich kam, lag er rücklings auf den Schneemassen. Er schrie entsetzt auf, als er den Kopf drehte und sah, dass die Tote direkt neben ihm lag und ihn mit leeren Augen anstarrte. Die Eismaske auf dem Gesicht der Leiche war zersplittert; eine derbleichen, steinhart gefrorenen Wangen lag auf Lascos Lippen; es wirkte wie eine obszöne Geste der Zärtlichkeit.
Als Lasco die eiskalte Luft durch die Nase einatmete, verfing sich eine
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