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Weiße Stille

Weiße Stille

Titel: Weiße Stille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Barclay
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Frühstück: Haferflocken, Honig und Obst. Anschließend stellte sie das Geschirr in die Spülmaschine und wischte die Arbeitsplatte sauber. Das Geschirrtuch faltete sie zusammen und hängte es neben die Spüle.
    Als sie die Küche verließ, eine Tasse koffeinfreien Kaffee in der Hand, keimten der Schmerz und die Trauer wieder in ihr auf. Sie setzte sich an ihren Schreibtisch und starrte auf die Skizze, die in einer Plastikhülle steckte. Die Zeichnung war viele Jahre alt – von Kinderhand gezogene blaue und grüne Linien. Es war eine Skizze, die Jean vertraut war. Ein Kind, das sie kannte, hatte nachts bei diesem Anblick geweint.
    Jean legte die Skizze in die Akte und ging in die Diele.
    Ihre Hand zitterte, als sie ihren FBI-Ausweis aus der Handtasche zog. Sie steckte ihn in die rechte Innentasche ihrer Jacke und verließ das Haus.

2. G OLDEN , C OLORADO
    Als Ren Bryce erwachte, fiel ihr Blick auf weißes Porzellan. Sie stöhnte dumpf. Sie hatte das Gefühl, von einem Laster überrollt worden zu sein. Als sie eine Hand auf ihren dröhnenden Schädel legen wollte, stießen ihre Fingerknöchel gegen die Unterseite der Toilettenschüssel. Sie rieb sich die vom Schlaf verklebten Lider und sah Spritzer der übelriechenden Flüssigkeit, die sie um vier Uhr nachts erbrochen hatte. Rotwein. Vorsichtig drehte sie sich auf den Rücken. Ihr blaues Kleid – das schöne Kleid, für das sie noch vor zwölf Stunden Komplimente bekommen hatte – war bis zur Taille aufgeknöpft und voller Flecken. Es sah aus wie ein Putzlappen. Langsam drehte Ren den Kopf und sah ihre Seidenstrümpfe in der Ecke neben der Toilettenbürste liegen. Übelkeit schoss in ihr hoch. Sie ließ sich zurücksinken und schloss die Augen.
    O Gott, nicht schon wieder.
    Mühsam zog sie sich hoch, hing wieder über der Toilettenschüssel, würgend und keuchend, doch es kam nichts mehr. Nur der Gestank des bereits Erbrochenen schlug ihr entgegen. Sie würgte, bis schwarze Sterne vor ihren Augen tanzten. Als der Anfall verebbte, kämpfte sie sich hoch, ging schwankend ins Bad und zog sich umständlich aus. Dann stand sie zehn Minuten unter der Dusche und wusch ihren Körper und ihr Haar mit verschiedenen Pflegemitteln.
    Plötzlich wurde ihr iPod-Alarm im Schlafzimmer aktiviert, und in voller Lautstärke erklang Dropkick Murphys »Kiss Me, I’m Shitfaced« – »Küss mich, ich bin stockbesoffen«.
    Ren schnappte sich ein Badetuch, sprang aus der Dusche, stürmtenackt ins Schlafzimmer und stellte den Ton leiser. Dann trocknete sie sich ab und zog eine Boxershorts aus pinkfarbener Spitze, einen passenden BH, ein enges, schwarzes T-Shirt, eine schwarze Röhrenhose und hochhackige schwarze Schuhe an. Als sie zur Frisierkommode schaute und an das Make-up dachte, wurde ihr wieder übel. Heute versprach kein schöner Tag zu werden.
    Ren nahm eine Spange, packte mit der freien Hand ihr nasses Haar und steckte es hoch. Dann setzte sie sich vor den Spiegel und rieb ihr Gesicht mit Feuchtigkeitscreme ein. Ihre dunkle Haut – ein Erbe ihrer indianischen Ahnen – war bleicher als sonst, und ihre blassgrünen Augen waren blutunterlaufen. Sie seufzte. Du blöde Kuh, was trinkst du auch so viel.
    Sie zog die Schminkutensilien näher heran und übertünchte die Spuren, die der Alkohol in ihrem Gesicht hinterlassen hatte, so gut sie konnte. Dann ging sie nach unten.
    Vincent lag auf dem Sofa und las Zeitung.
    »Hi«, sagte Ren.
    »Oh, hallo. Toller Song, den ich da eben gehört habe. Deine Erkennungsmelodie?«, sagte Vincent.
    »Tut mir leid wegen der Lautstärke.«
    »Du entschuldigst dich wegen der Lautstärke?« Vincent hob den Blick.
    Ren, die auf der anderen Seite des Zimmers stand, blickte ihn verlegen an.
    »Ist das alles, Ren?«
    »Was ist alles?«
    »Hast du mir sonst nichts zu sagen?«
    Ren ging in die Küche und goss sich einen Becher schwarzen Kaffee ein.
    Vincent folgte ihr. »Kannst du mir wenigstens erklären, warum du dich letzte Nacht so aufgeführt hast?«
    »Okay.« Ren drehte sich zu ihm um. »Du hast mir gerade genau die drei Fragen gestellt, die ich mir auch von meiner Mutter immer anhören musste, als ich ungefähr siebzehn war.«
    »Lass deine Mutter aus dem Spiel.«
    »Es stimmt aber. Und ich hab’s satt, mich von dir behandeln zu lassen wie …«
    » Du hast es satt? Nein, ich hab’s satt. Ich hab die Schnauze voll.«
    Ren öffnete den Mund.
    »Du müsstest dich mal hören«, sagte Vincent. »Du bist sechsunddreißig und redest wie ein

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