Weisser Schrecken
Japaner als Neuestes ausgebrütet hatten. In Fernost war gerade die PlayStation erschienen, die seiner Spielekonsole angeblich weit überlegen war.
Andreas dachte kurz darüber nach, ob er seinen Nintendo anwerfen sollte, doch die Aussicht, den Tag wieder mit einem Computerspiel zu beginnen, erfüllte ihn mit Leere. Mehr noch als an anderen Tagen sehnte er sich nach Gesellschaft. Der Wunsch, nicht allein zu sein, wurde plötzlich so übermächtig, dass Andreas fast körperliche Schmerzen verspürte. Er zitterte und dachte unwillkürlich wieder an Elke.
Vielleicht kamen sie und Miriam ja nachher zum See, wo sich die Clique zum Eislaufen treffen wollte? Bereits am Freitag hatte Bürgermeister Schober die zugefrorene Seefläche freigegeben. Hier bei ihm durften sich die Mädchen ja nicht blicken lassen, und bei Robert und Niklas ging es ebenfalls nicht. Nur, ob die beiden es ausgerechnet heute schafften, von zu Hause wegzukommen, stand in den Sternen. Heute war schließlich Sonntag.
Immerhin, einen Grund gab es, sich zu freuen. Denn bereits morgen war der fünfte Dezember, der Krampustag. Sozusagen das finstere Gegenstück zum Nikolaustag übermorgen. Und das bedeutete, dass morgen der traditionelle Krampuslauf in Perchtal anstand, ein vorweihnachtlicher Adventsbrauch, bei dem die ganze Ortschaft auf den Beinen war. Vielleicht würden sich ja -wie im letzten Jahr auch – einige Touristen aus Norddeutschland nach Perchtal verirren, denn angeblich kannte man den Krampuslauf oben bei den Fischköppen nicht. Auf jeden Fall würde das wilde Treiben ein ordentlicher Spaß werden.
Bereits Mitte November hatte Roman Köhler eine kleine Gruppe heranwachsender Jungs im Vereinshaus zusammengetrommelt, um die Perchten- und Teufelskostüme der letzten Jahre aus der Mottenkiste zu holen und zu flicken. Der Mittdreißiger war in Berchtesgaden ihr Vertrauenslehrer und unterrichtete sie dort in Sport und Geschichte. In seiner Freizeit aber war er ein lässiger Typ, der ein bisschen dafür sorgte, dass die Perchtaler Jugend nicht an Langeweile zugrunde ging. Im Sommer organisierte er für den Ferienpass Zeltlager, Ausflüge und die berühmten Wasserschlachten auf dem Perchtensee. Und hin und wieder schleifte er die Jugendlichen in das kleine Heimatkundemuseum nahe dem Bürgermeisteramt, das sonst nur für Touristen interessant war. Er hielt Traditionen für wichtig, dabei stammte Köhler nicht mal von hier, sondern war vor einigen Jahren aus Salzburg zugezogen.
Die Pass, wie man die Gruppe aus Nikolaus und Krampussen bezeichnete und die morgen im Ort ihr Unwesen treiben würde, bestand aus Köhler selbst und fünf Jungen. Darunter leider auch Konrad Toschlager, der Sohn des Schlachters, und seine beiden bekloppten Freunde Wastl und Lugge, die zwei Jungs aus dem Vorjahr abgelöst hatten. Auch Andy und Robert hatten einen der begehrten Plätze als Krampus ergattert, und das, obwohl es noch einige andere hoffnungsvolle Kandidaten gegeben hatte. Doch das ›Meyenberger Sägewerk‹ seines Vaters war der größte Arbeitgeber in Perchtal, darauf musste auch Köhler Rücksicht nehmen.
Was Niklas betraf, der war leider zu dick und unsportlich. Der wäre unter dem Gewicht der schweren Ganzkörperkostüme schon nach wenigen Metern zusammengebrochen. Wer einen Krampus gab, der musste schon ordentlich Kondition mitbringen. Andreas hatte die schwarzen Ziegenfellumhänge samt den hölzernen Teufelsmasken mit den echten Widderhörnern und den schweren Kuhglocken am Gürtel nie gewogen, aber er schätzte, dass jedes der Kostüme gut und gerne zwölf Kilo auf die Waage brachte. Roman Köhler selbst wollte es sich natürlich nicht nehmen lassen, auch dieses Jahr wieder den gütigen Nikolaus zu geben, der die Kinder am Straßenrand beschenkte. Ihnen anderen war es bestimmt, die Schaulustigen zu erschrecken und ihnen einen Klaps mit der Weidenrute zu verpassen, wenn sie nicht beiseite sprangen. Die Kleinsten fingen dann manchmal an zu weinen, wenn die schrecklichen Krampusse auf sie zukamen, aber das gehörte dazu. Richtig cool war es, dass man den Mädels im Ort ordentlich auf den Hintern klatschen durfte, ohne dass diese später sagen konnten, wer von den Jungs die Verantwortung dafür trug. Andreas feixte innerlich. Er hatte zwar erst einen Krampuslauf hinter sich, dennoch fühlte er sich bereits wie ein Profi. Das Beste von allem aber war, dass sein Vater versprochen hatte, morgen zu kommen. Und diesmal wollte er seine Zusage auch
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