Weisst du eigentlich, dass du mir das Herz gebrochen hast
Einschlafen immer herumgespielt hatte.
Der Raum war dunkel, staubig und gespenstisch still. Eine schlafende Gruft, in der schlechte Träume und gebrochene Herzen und traurige Erinnerungen weggeschlossen waren. So wie er aussah, hatte es seit meinem Tod niemand gewagt, hier einen Fuß hereinzusetzen. Ich ging zu der Fensterbank hinüber, die einst gemütlich und voller Kissen gewesen war und auf der Jack und ich oft Vier gewinnt gespielt hatten. Die Kissen waren ordentlich in der Ecke übereinandergestapelt. Die Vorhänge waren zugezogen. Das Fenster geschlossen.
Und ich hatte das dringende Bedürfnis, es zu öffnen.
Ich zog die Vorhänge zurück und versuchte mit aller Kraft, das Fenster hochzuziehen. Doch es steckte fest, als sei es eingerostet. Ich drückte und zerrte und zog, bis sich endlich, endlich etwas zu lockern schien.
Komm schon, komm schon.
Ich spürte, wie es sich ein Stück bewegte.
Geh schon auf. Geh auf.
Auf meiner Stirn formten sich kleine Schweißperlen.
Mach schon. Los, mach.
Plötzlich hörte ich ein Knacken und stieß einen Freudenschrei aus, als das Fenster endlich aufging und mir eine warme Morgenbrise entgegenwehte – lebhaft und frisch, voller Farben und Musik und Energie und Lachen und Vergebung.
Meine Zimmerwände ächzten und stöhnten, und die Decke bebte, als würde sie gleich einstürzen. Das Haus atmete wieder, und die frische Luft brachte Leben und Wärme und Liebe in sein Skelett. Dann ein Herzschlag. Pulsieren. Erinnern. Erwachen.
Ich setzte mich auf den Boden und atmete tief ein. Schloss die Augen und versuchte, meine Vergangenheit in mich aufzunehmen und in mir zu bewahren – jedes kleinste Detail. Damit ich es nie vergessen würde. Nicht in hundert Ewigkeiten. Ich speicherte das Geräusch des Windspiels in meinem Bewusstsein, das Dad vor Jahren vor mein Fenster gehängt hatte. Das kühle und kratzige Gefühl des Teppichbodens unter meinem Rücken. Den feinen Apfelduft. Mom sagte immer, mein Zimmer rieche nach Äpfeln.
Plötzlich bemerkte ich einen Lichtstrahl über mich hinweggleiten. Und als ich die Augen öffnete, sah ich einen winzigen Funken Sonnenlicht an der gegenüberliegenden Wand tanzen, der von dem alten Goldrahmen reflektiert wurde, der über meiner Kommode hing. Es war der Rahmen für ein Gedicht, das mir mein Großvater zu meinem letzten Geburtstag geschrieben hatte.
Meinem fünfzehnten Geburtstag.
Ich stand auf und ging zu der Kommode hinüber. In dem gerahmten Glas konnte ich ganz schwach mein Spiegelbild erkennen. Ich sah mein langes dunkles Haar. Warme, rosige Wangen. Meine grünen Augen. Ein wenig älter. Ein wenig weiser. Ich streckte die Hand aus, berührte sanft die Glasscheibe und fuhr meine Gesichtszüge nach.
Ich war schön, genau wie Mom immer gesagt hatte. Ich wünschte, ich hätte ihr geglaubt. Ich wünschte, ich könnte ihnen allen noch einmal sagen, wie viel sie mir bedeuteten. Wie viel sie mir immer bedeuten würden. Aber mehr als alles andere wünschte ich, ich hätte damals gewusst, wie glücklich ich sein konnte, sie zu haben.
Gelebt zu haben. Geliebt zu haben. Geliebt worden zu sein.
Was konnte sich ein Mädchen mehr wünschen?
»Engel«, hörte ich Patrick flüstern.
In diesem Augenblick wusste ich, dass es Zeit war.
Und ich war endlich bereit.
Ein neues Gefühl erfüllte meine Brust – nicht der zerreißende, schneidende Schmerz, den ich gespürt hatte, als ich starb, sondern eine angenehme, helle Wärme, die mich durchdrang und die Narben, die mein gebrochenes Herz zurückgelassen hatte, ausradierte. Narben, die durch die Tränen und das Gefühl des Betrogenseins entstanden waren, für die Jakob und Sadie nie einen Anlass gegeben hatten. Das wusste ich nun.
Ich fiel auf die Knie, während um mich herum mein Zimmer zu neuem Leben erwachte und sich ganz allmählich von der Traurigkeit löste. Ein Luftwirbel hob mich sanft vom Boden, und ich sah an mir herab. Ich begann zu verblassen.
Patricks Stimme umhüllte mich.
Nimm meine Hand.
Ich nahm sie.
In meinem letzten Moment auf Erden fiel mein Blick auf die letzten Zeilen des Gedichts meines Großvaters – Zeilen, die mir immer besonders erschienen waren, deren Sinn ich aber erst jetzt richtig verstand.
Und obwohl ich sie auswendig kannte, las ich die Worte laut vor.
Inmitten von Glück oder Verzweiflung
In Sorge oder Wonne
In Freud oder in Leid:
Tu stets das Richtige, und du wirst Frieden haben.
Im Leben gibt es kein größeres Geschenk als den Frieden,
außer
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