Weit Gegangen: Roman (German Edition)
trägt. Sein Gesicht unter einer Baseballkappe ist nicht zu erkennen, eine Hand hält er an der Hüfte, als müsse er seine Hose festhalten.
»Gehören Sie zu der Frau?«, frage ich ihn. Ich verstehe das alles noch nicht, und ich bin verärgert.
»Setz dich einfach hin, Afrika«, sagt er und deutet mit dem Kinn auf meine Couch.
Ich bleibe stehen. »Was macht sie da in meinem Schlafzimmer?«
»Beweg deinen Arsch zum Sofa«, sagt er diesmal drohend.
Ich setze mich, und jetzt zeigt er mir den Griff der Pistole. Er hatte sie die ganze Zeit in der Hand, und ich hätte das auch wissen sollen. Aber ich weiß nichts. Die Dinge, die ich eigentlich wissen sollte, weiß ich nie. Im Augenblick weiß ich nur, dass ich überfallen werde und dass ich woanders sein möchte.
Es ist seltsam, und das ist mir auch klar, aber in diesem Moment denke ich, dass ich wieder in Kakuma sein möchte. In Kakuma gab es keinen Regen, der Wind wehte neun Monate im Jahr, und achtzigtausend Flüchtlinge aus dem Sudan und anderen Ländern lebten von nur einer Mahlzeit am Tag. Doch in diesem Moment, während eine Frau in meinem Schlafzimmer ist und ein Mann mich mit seiner Pistole bedroht, möchte ich in Kakuma sein, wo ich in einer Hütte aus Plastik und Sandsäcken lebte und eine einzige Hose besaß. Ich glaube nicht, dass es im Flüchtlingslager Kakuma diese Art von Bösartigkeit gab, und ich wünschte, ich wäre wieder dort. Oder auch nur in Pinyudo, dem äthiopischen Lager, wo ich lebte, bevor ich nach Kakuma kam. Dort gab es nichts außer ein oder zwei Mahlzeiten am Tag, aber immerhin auch kleine Freuden. Damals war ich ein Junge und konnte leicht vergessen, dass ich ein unterernährter Flüchtling und tausend Meilen weit weg von Zuhause war. Wie auch immer, wenn das hier die Strafe dafür ist, dass ich so hochmütig war, Afrika verlassen zu wollen und von einem Studium und von Wohlstand in Amerika zu träumen, dann bin ich jetzt geläutert, und ich bitte um Verzeihung. Ich werde gesenkten Hauptes zurückkehren. Warum habe ich diese Frau angelächelt? Lächeln ist bei mir ein Reflex, und es ist eine Gewohnheit, die ich mir abgewöhnen sollte. Sie fordert Vergeltung heraus. So oft, wie ich schon gedemütigt worden bin, seit ich hierherkam, glaube ich allmählich, jemand versucht verzweifelt, mir eine Botschaft zu vermitteln, und diese Botschaft lautet: »Geh fort von hier.«
Kaum habe ich diesen Standpunkt des Bedauerns und des Rückzugs angenommen, wird er auch schon von dem des Widerspruchs verdrängt. Diese neue Haltung lässt mich aufstehen und den Mann im puderblauen Anzug ansprechen. »Ich möchte, dass Sie beide die Wohnung verlassen«, sage ich.
Der Pudermann wird zornig. Ich habe das Gleichgewicht gestört, habe ihrem Vorhaben ein Hindernis, meine Stimme, in den Weg gestellt.
»Willst du mir sagen, was ich zu tun habe, du Arschloch?«
Ich starre in seine kleinen Augen.
»Na los, Afrika, willst du Arschloch mir sagen, was ich zu tun habe?«
Die Frau hört uns und ruft aus dem Schlafzimmer: »Erledigst du ihn jetzt oder was?« Sie ist verärgert über ihren Partner, und er über mich.
Puder dreht den Kopf zu mir und zieht die Augenbrauen hoch. Er macht einen Schritt auf mich zu und deutet erneut auf die Pistole in seinem Gürtel. Er scheint bereit, sie zu benutzen, doch plötzlich sacken seine Schultern nach unten, und er lässt den Kopf hängen. Er starrt auf seine Schuhe und atmet langsam, sammelt sich. Als er den Blick wieder zu mir hebt, hat er die Beherrschung zurückgewonnen.
»Du bist aus Afrika, oder?«
Ich nicke.
»Na gut. Das heißt, wir sind Brüder.«
Ich bin nicht bereit, ihm zuzustimmen.
»Und weil wir Brüder sind und so, kriegst du jetzt von mir eine Lektion erteilt. Weißt du nicht, dass man Fremden nicht die Tür aufmachen soll?«
Bei der Frage verziehe ich das Gesicht. Der Überfall an sich wäre in gewisser Weise noch akzeptabel gewesen. Ich habe Überfälle gesehen, bin selbst beraubt worden, wenn auch in weit kleinerem Umfang als jetzt. Bis ich in die Vereinigten Staaten kam, war mein kostbarster Besitz die Matratze, auf der ich schlief, und daher fielen die Diebstähle wesentlich geringer aus: eine Wegwerfkamera, ein Paar Sandalen, ein Packen Schreibmaschinenpapier. Das alles war wertvoll, ja, aber jetzt besitze ich einen Fernseher, einen Videorecorder, eine Mikrowelle, einen Wecker und viele andere Luxusgüter, allesamt Spenden von der Peachtree United Methodist Church hier in Atlanta. Manche
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