Weit Gegangen: Roman (German Edition)
gesehen, dass mal Reifen dran gewesen wären. Er bastelt gern an seinem Wagen, und es macht ihm nichts aus, an meinem zu arbeiten, einem 2001er Corolla. Wenn er an meinem Auto arbeitet, will Edgardo immer von mir unterhalten werden. »Erzähl mir Geschichten«, sagt er, weil ihm die Musik, die im Radio läuft, nicht gefällt. »In meinem Land spielen sie überall Norte-Musik, aber nicht in Atlanta. Was mach ich hier eigentlich? Das ist keine Stadt für Musikfreunde. Erzähl mir eine Geschichte, Valentino. Sprich mit mir, sprich mit mir. Erzähl ein paar Geschichten.«
Als er mich das erste Mal bat, fing ich an, ihm meine eigene Geschichte zu erzählen, die damit begann, dass die Rebellen, Männer, die sich schließlich der Sudanesischen Volksbefreiungsarmee, der Sudan People’s Liberation Army, kurz SPLA, anschließen sollten, den Laden meines Vaters in Marial Bai plünderten. Ich war damals sechs Jahre alt, und die Zahl der Rebellen in unserem Dorf wuchs von Monat zu Monat. Die meisten duldeten sie, andere lehnten sie ab. Für dortige Verhältnisse war mein Vater ein reicher Mann, Besitzer eines Gemischtwarenladens in Marial Bai und eines weiteren Ladens ein paar Tage Fußweg entfernt. Jahre zuvor hatte er selbst den Rebellen angehört, doch jetzt war er Geschäftsmann und wollte keinen Ärger. Er wollte keine Revolution, er hatte nichts gegen die Islamisten in Khartoum. Sie störten ihn nicht, sagte er, sie waren eine halbe Welt entfernt. Er wollte nur Getreide verkaufen, Mais, Zucker, Töpfe, Stoffe, Süßigkeiten.
Eines Tages saß ich bei ihm im Laden auf dem Boden und spielte. Über mir wurde es laut. Drei Männer, zwei davon mit Gewehren bewaffnet, wollten einfach alles mitnehmen, was sie brauchten. Sie sagten, es sei zum Wohle der Rebellion und sie würden einen Neuen Sudan erschaffen.
»Nein, nein«, sagte Edgardo. »Nichts mit Kampf. Von der ganzen Kämpferei will ich nichts hören. Ich lese drei Zeitungen täglich.« Er deutete auf die Zeitungen, die ausgebreitet unter dem Auto lagen, voll mit braunen Ölflecken. »Davon höre ich schon genug. Ich weiß von eurem Krieg. Erzähl mir was anderes. Erzähl mir, woher du deinen Namen hast, Valentino. Das ist ein komischer Name für jemanden aus Afrika, findest du nicht?«
Also erzählte ich ihm die Geschichte von meiner Taufe. Das war in meinem Heimatort. Ich war ungefähr sechs Jahre alt. Die Taufe war die Idee meines Onkels Jok. Meine Eltern, die nichts mit dem Christentum anfangen konnten, nahmen nicht daran teil. Sie glaubten an die traditionellen religiösen Vorstellungen meines Stammes, und die zögerliche Annäherung des Dorfes an den christlichen Glauben beschränkte sich auf die jungen Leute, wie Jok, und diejenigen, die sie leicht verführen konnten, wie mich. Die Konvertierung war für jeden Mann ein Opfer, da Pater Dominic Matong, ein von italienischen Missionaren ordinierter Sudanese, die Polygamie untersagte. Aus diesem Grund lehnte mein Vater, der viele Ehefrauen hatte, die neue Religion ab, und auch weil er den Eindruck hatte, die Christen verließen sich allzu sehr auf das geschriebene Wort. Mein Vater konnte genauso wenig lesen wie meine Mutter; nicht viele Menschen in seinem Alter waren des Lesens mächtig. – Geh du nur zu deiner Kirche der Bücher, sagte er. – Du kommst schon zurück, wenn dein Verstand wiederkehrt.
Ich trug ein weißes Gewand und stand zwischen Jok und seiner Frau Adeng, als Pater Matong seine Fragen stellte. Er hatte einen Zweitagemarsch von Aweil nach Marial Bai auf sich genommen, um mich und drei weitere Jungen zu taufen, die nach mir dran waren. Ich war so nervös wie noch nie. Die anderen Jungen meinten, das wäre doch nichts im Vergleich zu einer drohenden Prügelstrafe durch ihren Vater, aber so etwas kannte ich nicht. Mein Vater erhob nie die Hand gegen mich.
Pater Matong stellte sich vor Jok und Adeng, hielt die Bibel in der einen Hand und hob die geöffnete andere in die Luft. – Wünscht ihr die Taufe eures Kindes mit ganzem Herzen und Vertrauen, auf dass es ein gläubiges Mitglied der Familie Gottes werde?
– Ja!, sagten sie.
Ich fuhr zusammen, als sie das sagten. Es war viel lauter, als ich erwartet hatte.
– Widersagt ihr dem Satan und seiner Macht, Falschheit und Treulosigkeit?
– Wir widersagen!
– Glaubt ihr an Jesus Christus, Gottes eingeborenen Sohn, der geboren ist von der Jungfrau Maria, der gelitten hat und gekreuzigt wurde und am dritten Tag von den Toten auferstand, um uns von
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