Weit weg ... nach Hause
wie sie mit Heißhunger in das Brot beißt, das kaum in
ihren Mund passt. Nachdem sie die Hälfte des Abendessens verdrückt hat, bricht es aus ihm heraus: »Du wirst gesucht!«
Luisas Kiefer bleiben schlagartig stehen, der Mund bewegt sich keinen Millimeter. Dann – wie auf Knopfdruck – zermalmen die
Zähne in rasantem Tempo die Brotreste. Sie schluckt.
»Woher weißt du das?«, fragt sie fast atemlos.
»Sie haben es in den Nachrichten gebracht. Mit Foto. Deine Mutter wurde interviewt, sie ist völlig fertig vor Sorge. Sie bittet
die Bevölkerung, dich zu suchen. Hubschrauber und Hundertschaften von Polizisten durchkämmen das Stadtviertel, wo du wohnst,
und den angrenzenden Wald.«
»Ach du Scheiße!«, stößt Luisa erschrocken hervor, ihr wird schlagartig klar, was sie in Bewegung gesetzt hat. Auf die Idee,
dass man sie durchdas Fernsehen suchen könnte, ist sie überhaupt nicht gekommen.
»Meine Mutter ist übrigens schnell außer sich. Das hat sie studiert. Sie ist Schauspielerin«, sagt Luisa nach einer Weile.
Sie hat sich in die Wolldecke gewickelt und wirkt merkwürdig ruhig.
Freddy lacht herzhaft. »Cooler Spruch!«, sagt er. »Coole Familie!«
Dann wird er gleich wieder ernst: »Ich muss meinem Vater sagen, dass du an Bord bist, sonst krieg ich Ärger. Er übrigens auch.«
»Du willst mich verraten? Ich dachte, ich kann dir vertrauen!«, sagt Luisa hektisch und viel zu laut.
»Luisa, sei vernünftig! Mein Vater ist nett. Er wird dich bis Basel mitnehmen. Wir können sowieso keinen Zwischenstopp machen.
Unser Zeitplan ist viel zu eng. Wenn wir ihm deine Geschichte erzählen, wird er deine Tante anrufen. Glaub mir!«
Luisa schaut Freddy voller Zweifel an, aber sie beruhigt sich, ihr Herz schlägt wieder langsamer. Sie weiß, dass er schon
viel für sie getan hat, sie kann nicht erwarten, dass er Ärger riskiert. Plötzlich spürt sie seine warme, kräftige Hand auf
ihrem Arm. Zaghaft! Beschwichtigend! Verständnisvoll!Als sie den Kopf hebt, kann sie ihm kaum in die Augen schauen: Ihr Gesicht glüht, als stünde sie vor einer Grillhähnchenbude.
Eine heiße Welle durchflutet sie: Jetzt weiß sie, dass sie einen Freund gefunden hat.
»Bitte, Freddy, warte bis morgen früh!«, sagt sie leise.
»Und deine Eltern? Die werden doch verrückt vor Angst. Ist dir das egal?«
»Ja!«, antwortet sie ihm ehrlich.
Freddy zögert, dann willigt er ein: »Okay, morgen früh! Aber dann sag ich, dass ich dich gerade erst entdeckt hab, sonst krieg
ich den Megastress.«
Glücklich umarmt Luisa den Jungen: »Danke, Freddy!«
Aber Freddy springt sofort von der Kiste, um nach oben zu eilen. Auf der Treppe dreht er sich noch einmal um: »Deck dich gut
zu. Es wird kalt heute Nacht. Und schlaf gut.«
Luisa rollt sich zusammen, zieht die Wolldecke bis zur Nasenspitze. Sie schläft mit einem einzigen Gedanken ein. Leise flüstert
sie ihn in die dunkle Nacht: »Ich habe einen Freund!«
Gefährlicher Streifen
Am nächsten Morgen öffnet sich polternd die Luke. Luisa erkennt wie durch einen Nebel eine riesige Gestalt, die sich niederkniet
und etwas ruft. Sie kann die Worte nicht verstehen. Es ist ihr unmöglich, die schweren Augenlider offen zu halten. Sie liegt
unter der Decke, das Gesicht hochrot, ihre Kleidung ist völlig verschwitzt, obwohl die Stahlwände eisige Kälte abstrahlen.
Freddy berührt behutsam ihre Schulter, von ganz weit kehrt Luisa langsam wie in Trance zurück.
»Luisa!«, ruft Freddy, dann schüttelt er sie heftiger. »Sie suchen dich überall. Sie haben dein Fahrrad gefunden und denken,
du bist ertrunken. Taucher durchforsten Meter für Meter den Hafen. Jede halbe Stunde kommen Meldungen im Radio!«
Luisa wischt mit der Hand über die Augen, versucht sich hinzusetzen, aber sie fühlt sich unendlich schwach.
Dann flüstert sie: »Hast du es deinem Vater schon gesagt?«
Freddy senkt beschämt den Kopf: »Ja! Ich soll dich in die Kajüte bringen. Dann muss er die Polizei benachrichtigen, sagt er.«
Mühsam rappelt sich Luisa hoch. Ihr Bein scheint betäubt, der ganze Körper schmerzt. Unter größter Anstrengung zieht sie sich
die Treppe hinauf, streckt Freddy ihre Hand hin und folgt ihm leichenblass.
Kalte Luft schlägt ihr ins Gesicht, als sie aus ihrem Versteck steigt, der Wind treibt Tränen in ihre Augen. Alles verschwimmt
hinter einem Schleier: die Weinstöcke an den Hängen, die putzigen Dörfer und die mittelalterliche Burg auf dem Berg in der
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