Weit wie das Meer
Erklärung durchringen.
Eine Woche später, als sie gerade an ihrer Kolumne arbeitete, läutete das Telefon.
»Spreche ich mit Theresa?«
»Ja«, antwortete sie, ohne die Stimme zu erkennen.
»Hier ist Jeb Blake… Garretts Vater. Ich weiß, es klingt seltsam, aber ich möchte mit Ihnen sprechen.«
»Oh, hallo«, stammelte sie. »Ich hätte gerade Zeit.«
»Wenn es möglich ist, würde ich lieber persönlich mit Ihnen reden. Am Telefon geht das nicht so gut.«
»Darf ich erfahren, worum es geht?«
»Es geht um Garrett«, antwortete Jeb ruhig. »Ich weiß, es scheint ein bißchen viel verlangt - aber könnten Sie nicht hierherkommen? Ich würde Sie nicht bitten, wenn es nicht so wichtig wäre.«
Nachdem sie eingewilligt hatte, ließ Theresa ihre Arbeit liegen und holte Kevin von der Schule ab. Sie erklärte ihm, sie müsse ein paar Tage verreisen; er werde solange bei einem Freund wohnen. Kevin hätte gern den Grund für ihre plötzliche Reise gewußt, ihr zerstreutes Verhalten aber machte ihm klar, daß er sich würde gedulden müssen.
»Grüß Garrett von mir«, sagte er, bevor er ihr einen Abschiedskuß gab.
Theresa nickte nur, fuhr zum Flughafen und nahm die erste Maschine nach Wilmington. Dort ließ sie sich von einem Taxi zu Garretts Haus fahren, wo Jeb sie schon erwartete.
»Ich bin froh, daß Sie kommen konnten«, begrüßte er Theresa.
»Was ist passiert?« Sie blickte Garretts Vater fragend an und bemerkte, daß er älter aussah, als sie ihn in Erinnerung hatte.
Er bot ihr einen Platz am Küchentisch an, und als sie einander gegenübersaßen, räusperte er sich und begann zu erzählen.
»Aus den Schilderungen verschiedener Leute geht hervor, daß Garrett später als gewöhnlich mit der Fortuna hinausgefahren ist…«
Es war ganz einfach etwas, das er tun mußte. Garrett wußte wohl, daß die schweren, dunklen Wolken am Horizont die Vorboten eines Unwetters waren. Aber da sie noch weit genug entfernt waren, glaubte er, genügend Zeit zu haben. Außerdem wollte er nur zehn oder fünfzehn Meilen hinaussegeln und würde im Notfall rasch in den schützenden Hafen zurückkehren können. Also zog er seine Handschuhe an und steuerte die Fortuna durch die anschwellende Dünung.
Seit drei Jahren schon wählte er die gleiche Route, wenn er hinausfuhr - in Erinnerung an Catherine. Es war ihr Vorschlag gewesen, bei ihrem ersten Törn mit der eben restaurierten Fortuna geradewegs gen Osten zu segeln. In Catherines Vorstellung nahmen sie Kurs auf Europa, das sie immer schon hatte besuchen wollen. Manchmal kam sie mit einem Reisekatalog aus der Stadt zurück und blätterte sehnsüchtig darin herum. Sie wollte alles sehen - die berühmten Loire-Schlösser, die Akropolis, das schottische Hochland - einfach alles.
Aber sie war nie nach Europa gekommen.
Und das war einer der Punkte, die Garrett am meisten bedauerte. Wenn er auf sein Leben mit Catherine zurückblickte, wurde ihm klar, daß er ihr diesen einen Wunsch hätte erfüllen müssen, denn er wußte, daß er erfüllbar gewesen wäre. Nach ein paar Jahren des Sparens hatten sie genügend Geld gehabt und Reisepläne geschmiedet, doch am Ende hatten sie es für den Kauf des Ladens verwendet. Und als Catherine feststellen mußte, daß ihnen das Geschäft zu wenig Zeit zum Reisen ließ, verflüchtigten sich ihre Träume. Sie brachte immer seltener Reisekataloge mit nach Hause und erwähnte Europa kaum noch.
In der Nacht jedoch, als sie zum ersten Mal mit der Fortuna ausliefen, war ihr Traum noch lebendig. Sie stand am Bug, blickte in die Ferne und hielt Garretts Hand. »Ob wir jemals hinfahren?« fragte sie ihn. Den verträumten, hoffnungsvollen Blick, mit dem sie es sagte, würde er niemals vergessen. »Ja«, versprach er. »Sobald wir Zeit haben.«
Ein knappes Jahr danach waren Catherine und ihr ungeborenes Kind im Krankenhaus gestorben.
Als später die quälenden Träume einsetzten, war er völlig hilflos gewesen. Eine Zeitlang bemühte er sich vergebens, seinen Schmerz zu verdrängen. Schließlich, in einem Verzweiflungsanfall, versuchte er Erleichterung zu finden, indem er seine Gefühle in Worte kleidete. Er schrieb schnell, ohne Unterbrechung, und der erste Brief war fast fünf Seiten lang. Als er abends segeln ging, nahm er den Brief mit. Auf dem Boot las er ihn noch einmal, und dabei kam ihm plötzlich eine Idee. Mit dem Golfstrom, der, von Mexiko kommend, die amerikanische Ostküste hochzieht und in den kühleren Wassern des
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