Weit wie das Meer
gewünscht, doch nach sechs Ehejahren war Deanna immer noch nicht schwanger. Also hatten sie einen Gynäkologen aufgesucht und erfahren, daß Deannas Eileiter voller Narben waren und daß sie keine Kinder würde bekommen können. Mehrere Jahre lang hatten sie versucht, ein Kind zu adoptieren, doch die Liste der Anwärter schien endlos zu sein, und schließlich hatten sie die Hoffnung aufgegeben. Es folgten düstere Jahre, und die Ehe wäre beinahe zerbrochen. Aber sie hatten sich wieder zusammengerauft, und Deanna hatte sich in die Arbeit gestürzt, um die Leere in ihrem Leben auszufüllen. Zu einer Zeit, als Frauen in der Redaktion noch eine Seltenheit gewesen waren, hatte sie einen Job bei der Boston Times bekommen und sich langsam aber sicher die Karriereleiter hinaufgearbeitet. Als sie vor zehn Jahren Chef vom Dienst geworden war, hatte sie begonnen, Journalistinnen unter ihre Fittiche zu nehmen. Theresa war ihr erster Schützling gewesen.
Nachdem Deanna zum Duschen hinaufgegangen war, warf Theresa einen kurzen Blick in die Zeitung und sah dann auf die Uhr. Sie ging zum Telefon und wählte Davids Nummer. Es war noch früh in Kalifornien, erst sieben Uhr, doch sie wußte, daß die ganze Familie bereits auf den Beinen sein würde. Kevin stand immer schon in aller Herrgottsfrühe auf. Das Telefon läutete mehrmals, bevor Annette abhob. Theresa hörte Fernseher und Babygeschrei im Hintergrund.
»Hallo. Ich bin’s, Theresa. Ist Kevin in Reichweite?«
»Oh, hallo. Natürlich ist er da. Moment bitte.«
Der Hörer wurde auf den Tisch gelegt, und Theresa hörte Annette nach Kevin rufen. »Kevin, für dich. Theresa ist am Apparat.«
Daß man sie nicht ›Mom‹ nannte, schmerzte Theresa mehr, als sie erwartet hatte, doch ihr blieb keine Zeit, weiter darüber nachzudenken.
Kevin war außer Atem, als er den Hörer aufnahm.
»Hi, Mom. Wie geht’s? Gefällt dir dein Urlaub?«
Als sie seine Stimme hörte, fühlte sie sich plötzlich furchtbar einsam. Es war eine noch hohe, kindliche Stimme, doch nur allzu bald würde sie erwachsen und männlich klingen.
»Ich bin erst seit gestern abend hier, aber es ist herrlich. Ich habe noch nicht viel unternommen, außer dem Joggen heute morgen.«
»Waren viele Leute am Strand?«
»Noch nicht, aber auf dem Rückweg habe ich schon die ersten Sonnenanbeter auftauchen sehen. Sag mal, wann brichst du mit deinem Dad auf?«
»In ein paar Tagen. Sein Urlaub fängt erst am Montag an, und dann geht’s los. Er fährt gleich ins Büro; möchtest du ihn sprechen?«
»Nein, nicht nötig. Ich wollte dir nur noch einmal eine schöne Zeit wünschen.«
»Du, das wird bestimmt super. Ich hab ’nen Prospekt von der Floßfahrt gesehen. Ein paar von den Stromschnellen sind echt cool.«
»Bitte sei vorsichtig.«
»Mom, ich bin doch kein Kind mehr.«
»Ich weiß. Aber du könntest deine altmodische Mutter ein bißchen beruhigen.«
»Okay, Mom, ich versprech’s dir. Ich trag die ganze Zeit meine Schwimmweste.« Er hielt einen Augenblick inne. »Es gibt übrigens nirgends ein Telefon. Du kannst mich also nicht anrufen, bis wir zurück sind.«
»Das habe ich mir schon gedacht. Ich rufe an, wenn du zurück bist. Du wirst bestimmt viel Spaß haben.«
»Es wird super. Schade, daß du nicht mitkommen kannst. Wir hätten bestimmt eine tolle Zeit.«
Theresa schloß die Augen, bevor sie antwortete - ein Trick, den sie ihrer Therapeutin verdankte. Wann immer Kevin eine Andeutung machte, daß sie drei wieder zusammen sein sollten, mußte sie aufpassen, um nichts zu sagen, das sie später bereuen würde. Ihre Stimme klang so optimistisch wie eben möglich.
»Du und dein Dad müßt eine Zeitlang allein sein. Ich weiß, daß du ihm sehr fehlst. Ihr habt einiges nachzuholen, und er freut sich schon genauso lange auf diese Reise wie du.« Nun, das war doch gar nicht so schwer!
»Hat er dir das gesagt?«
»Ja. Mehrmals.«
Kevin schwieg ein Weilchen.
»Du wirst mir fehlen, Mom. Kann ich dich anrufen, sobald ich zurück bin, und dir erzählen, wie es war?«
»Natürlich. Du kannst mich immer anrufen. Ich freue mich schon auf deinen ausführlichen Bericht.« Dann: »Ich hab dich lieb, Kevin.«
»Ich dich auch, Mom.«
Sie legte auf und fühlte sich glücklich und traurig zugleich, wie immer, wenn Kevin bei seinem Vater war und sie mit ihm telefonierte.
»Wer war das?« fragte Deanna, die eben die Treppe herunterkam. Sie trug eine gelbgestreifte Bluse, rote Shorts, weiße Socken und Reeboks - eine
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