Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Weiter weg

Weiter weg

Titel: Weiter weg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Franzen
Vom Netzwerk:
durchs Leben. Und dann der diesige blaugraue Himmel, wissen Sie, mit den großen weißen Wolken, die über den Central Park ziehen. Und die Gebäude aus Stein mit den Portiers und die Fifth Avenue wie eine einzige, massive Kolonne von Yellow Cabs, die in die brombraune Dunstglocke entschwindet. Diese ganze gewaltige Urbanität. Und zusammen mit Martha dort zu sein, meiner aufregenden New Yorker Cousine, und einen Nachmittag lang mit ihr durch die Straßen zu wandern und dann zu Abend zu essen wie zwei Erwachsene und zu einem kostenlosen Konzert im Park zu gehen: Das Ich, das ich an jenem Tag zu sein glaubte, erkannte ich nur deshalb, weil ich mich so lange nach ihm gesehnt hatte. An meinem ersten Tag in New York begegnete ich in mir der Person, die ich sein wollte. Wir holten die Mädchen nachts gegen elf bei ihrer Großmutter ab und gingen zum Parkhaus des Kunstmuseums, und dort stellten wir fest, dass der rechte Hinterreifen platt war. Eine Pfütze aus schwarzem Gummi. Also arbeiteten Martha und ich Schulter an Schulter, schwitzend, wie ein Paar, und schafften es, den Wagen hochzubocken und den Reifen zu wechseln, während das mittlere Mädchen im Schneidersitz auf dem Kofferraum eines anderen Autos saß, die Fußsohlen schwarz von der Stadt, und Flöte spielte. Nach Mitternacht fuhren wir los. Die Mädchen schliefen hinten, als wären es Marthas und meine Kinder, und die Fenster waren offen, und die Luft, immer noch schwül, aber kühler jetzt, roch nach der Meerenge, und die Straßen waren voller Schlaglöcher und leer, und die Straßenlaternen verbreiteten ein geheimnisvoll natriumoranges Licht, anders als die bläulichen Quecksilberdampflampen, die es noch in St. Louis gab. Dann fuhren wir über die Whitestone Bridge. Und das war der Moment, in dem ich die entscheidende Vision hatte. Und New York unwiderruflich verfiel: als ich mitten in der Nacht Co-op City sah.
    Geologe von New York (State): Gibt’s ja nicht.
    JF: Im Ernst. Ich hatte den Tag in Manhattan verbracht, hatte die größte und stadtartigste Stadt der Welt bereits gesehen. Und jetzt entfernten wir uns seit fünfzehn oder zwanzig Minuten von ihr, was von St. Louis aus gereicht hätte, um zwischen stockdunklen, flussgrundschwarzen Kornfeldern zu landen, und plötzlich waren da diese riesigen Wohntürme, so weit das Auge reichte, jeder einzelne so hoch wie das höchste Gebäude in St. Louis, und mehr, als ich zählen konnte. Die, die am weitesten weg waren, standen drüben am Wasser und wirkten in dem Dunst wie von einem anderen Stern. Zehntausende von Stadtleben übereinandergestapelt und aneinandergepresst. Die schiere Anzahl von Wohnungen, die man da in der südöstlichen Bronx sehen konnte: Das alles erschien mir in dem Moment unergründlich und aufregend groß , genauso wie meine eigene Zukunft, mit Martha neben mir, die hundertzwanzig fuhr.
    Geologe von New York (State): Und ist was daraus geworden? Aus Ihnen und ihr?
    JF: Ich hab vier Jahre später mal auf ihrem Sofa gepennt. Wieder auf der Upper East Side. In irgendeinem anonymen Co-op-City-ähnlichen Wohnturm. Martha hatte gerade ihr Examen an der Cornell University gemacht. Sie teilte sich eine Dreizimmerwohnung mit zwei anderen Mädchen. Ich war mit meinem Bruder in der Stadt. Wir hatten uns in Chinatown zum Essen mit der Schwiegerfamilie meines anderen Bruders getroffen, der ein paar Jahre vorher sein eigenes Manhattan-Mädchen geheiratet hatte. Tom wollte bei einer seiner Freundinnen von der Kunsthochschule übernachten, und ich fuhr zu Martha. Ich weiß noch, dass sie am Morgen gleich als Erstes Robert Palmers «Sneakin’ Sally Through the Alley» im Wohnzimmer auflegte und die Lautstärke hochdrehte. Wir fuhren mit einem unglaublich vollen Zug der Linie 6 runter nach SoHo, wo sie für die SoHo News Anzeigenplatz verkaufte. Und ich dachte: Mann, was für ein Leben!
    Geologe von New York (State): Und wieder ganz ohne Ironie, vermute ich.
    JF: Genau.
    Geologe von New York (State): New York is where I’d rather stay!/I get allergic smelling hay!
    JF: Was soll ich Ihnen sagen? Es besteht eine besondere Verbindung zwischen dem Mittelwesten und New York. Nicht nur, dass New York den Markt für die Waren geboten hat, die den Mittelwesten zu dem gemacht haben, was er ist; und nicht nur, dass der Mittelwesten durch die Lieferung dieser Waren New York zu der gemacht hat, die sie ist. Vielmehr ist New York wie das wachsame Auge des Yang im Zentrum der anspruchslosen, bescheidenen

Weitere Kostenlose Bücher